Wirr ist das Volk

Während die einen die Liebe beschwören, erklimmen die anderen das Parlament. Ein Wochenende der Widersprüche.

Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 36/2020, Foto oben: Eva Kienholz

Aus Darmstadt kommt er, Jonas, 18 Jahre alt, wilde Mähne, Calvin-Klein-Shirt, Schlabberhose. Später melden sich noch ganz andere zu Wort, der österreichische Identitären-Chef Martin Sellner etwa, auch ein echter Kennedy und sogar der mögliche Nachfolger von Andreas Kalbitz in der AfD – aber zunächst ist da einfach nur Jonas. „Wir wollen nicht bloßstellen, sondern entlarven“, sagt er und lächelt lausbübisch. Was genau er entlarven will, kann er nicht so recht erklären. Aber sympathisch wirkt er mit seinem seligen Lächeln und einer Selbstgedrehten in der Hand, unbedarft bis revolutionsromantisch. Über sich sagt er: „Ich stehe auf der guten Seite.“

Jonas gehört zur Initiative „Querdenken 711“, die hier unweit des Kanzleramts ihr Protestcamp aufgebaut hat, ein provisorisches Hauptquartier, von dem aus sie ihr großes Demo-Wochenende plant, das „Fest für Frieden und Freiheit“. An diesem Donnerstagnachmittag vergangener Woche ist der Protestzug zwar offiziell verboten, aber das werde nur dafür sorgen, dass „noch mehr Leute kommen“, erklären Aktivisten gut gelaunt. Sie laufen mit Papierstapeln oder Kaffee hin und her, sitzen vor Laptops, irgendjemand sucht immer gerade irgendein Kabel, die Stimmung erinnert an Blockupy in Frankfurt anno 2012.

Jonas erklärt: „Wir haben Leute dabei, die drei Wohnungen besitzen, und Wohnungslose.“ Dann meint er, früher die Grünen unterstützt zu haben, aber eigentlich „total unpolitisch“ zu sein. Während nebenan im Kanzleramt Angela Merkel mit den Länderchefs einheitliche Corona-Maßnahmen beschließt, etwa eine Mindeststrafe für Maskenverweigerer, sagt Jonas: „Ich muss eh keine Maske tragen, ich habe ein ärztliches Attest.“ Er sei komplett ungeimpft, wolle eigentlich weg, nach Sri Lanka vielleicht, oder nach Portugal, jedenfalls habe er sich vieles verbaut, zu viel gekifft. Irgendwann schließt er mit den Worten: „Aber eigentlich bin ich Kommunist.“

Jonas zuzuhören ist ein bisschen so, als hätte man zehn willkürlich ausgewählte Wikipedia-Artikel ausgedruckt, in den Mixer geworfen und die Schnipsel anschließend zusammengeklebt. Jonas ist wohl das passendere Gesicht des Berliner Protestwochenendes als die rechte Prominenz, die sich in diesen Tagen ebenfalls im Regierungsviertel herumtreibt.

Auf der guten Seite wähnen sie sich aber alle, die da gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren, Unpolitische, Linke und Rechte, Sinnsucher und Reichsbürger, Trump-Fans und Impfgegner. Vielleicht ist das neben ihrer Ablehnung der Bundesregierung das Einzige, was sie verbindet. Das politische Koordinatensystem, in dem sie eingeordnet werden könnten, muss wohl erst noch gezeichnet werden. Aber zunächst wird getanzt.

Es ist Freitag. „Bewegt eure Ärsche, ihr faules Pack. Volkstanz für den Volkserhalt!“, ruft Nikolai Nerling vor dem Reichstag. Der selbst ernannte „Volkslehrer“ ist wegen Volksverhetzung verurteilt, interviewt sonst gerne Holocaust-Leugner, bringt an diesem Tag einer Frau Tanzschritte bei. Nerling hat seine Meute gefunden. Frauen mit langen Röcken und Männer mit kurzen Lederhosen haken sich vergnügt ein, als folkloristische Musik ertönt. Schon verströmt die Wiese vor dem Reichstag die schunkelige Stimmung eines Mittelaltermarktes. Vielleicht kommen diese Proteste ja auch deshalb mit solcher Wucht, weil viele Menschen nach einem halben Jahr ohne Volksfeste, Konzerte und Fußballspiele sich nach heiterer Gemeinschaft sehnen.

„Ich bin einfach nur kritisch“

Doch da gibt es auch Leute, die nicht mittanzen wollen. Frederik zum Beispiel. Er ist aus Hannover gekommen, 40 Jahre und von Beruf Rettungssanitäter. Er trägt ein Band-Shirt der Ärzte. „Ich bin hier, weil ich mich von der Impfpflicht bedroht fühle“, erklärt er mürrisch. „Es gibt Corona, aber es gibt keine Pandemie.“ Solche Sätze fallen an diesem Demo-Wochenende oft. Die Gefahr gehe nicht vom Virus, sondern von der Regierung aus, die versuche, Grundrechte abzuschaffen. Besonders die Querdenker verweisen gerne auf das Grundgesetz, das auch kostenlos am Protestcamp ausliegt. Einige tragen Corona herum, als Wollknäuel-Anhänger am Rucksack oder als basketballgroße Installation mit den charakteristischen Noppen. Einer nennt es „Freiheitsvirus“.

Auch Bonny und Bert, beide 28 Jahre, sind extra aus Schleswig-Holstein angereist. Sie stehen nicht am Reichstagsgebäude, sondern vor dem Brandenburger Tor. Schon am Freitagabend findet dort eine Kundgebung von „Querdenken“ statt. Die Stimmung ist prächtig, das Berliner Verwaltungsgericht hat gerade das Verbot für die große Kundgebung am Samstag gekippt. „Wir wollen demonstrieren, weil wir gegen das Impfen und für die Freiheit sind“, sagt Bonny und nimmt einen Schluck vom Bier. „Aber politisch sind wir nicht“, sagt Bert. Es ist kein Zufall, dass die beiden einen weiten Weg in die Hauptstadt auf sich nehmen, viele Demonstranten kommen aus ganz Deutschland angereist. Soziologen haben in den vergangenen Wochen darauf hingewiesen, dass vor allem Menschen aus entlegenen Regionen sich in Krisenzeiten, da Berlin scheinbar alternativlos durchregiert, nicht mehr gehört und repräsentiert fühlen. Diese Menge hier gibt der Wissenschaft recht.

Es ist Samstag, der Tag der geplanten großen Demonstration. Aus der rechten Szene hat es viel Mobilisierung gegeben, Gewaltaufrufe, Revolutionsfantasien, manche scheinen wirklich an einen Umsturz zu glauben. Aber vor jedem Sturm ist erst einmal Ruhe.

„Ich bin einfach nur kritisch“, sagt Judith. Sie ist 56 Jahre alt und lebt in einer Kommune in Baden-Württemberg, mit der sie heute auch demonstrieren möchte. Sie lächelt viel, hält mehrere Sonnenblumen in den Händen. „Eine Demokratie muss verschiedene Meinungen aushalten. Wenn sie es nicht tut, ist es keine Demokratie, sondern eine Diktatur.“ Es ist eine Haltung, die man öfter an diesem Tag hört. Menschen mit roten Herz-Luftballons laufen neben Leuten mit schwarz-weiß-roter Reichsflagge und antworten auf diesen Widerspruch mit: „Wir sind doch alles Menschen!“

Vor dem Brandenburger Tor steht Christoph Berndt, AfD-Mann aus Brandenburg und Chef des rechtsgerichteten Vereins „Zukunft Heimat“. Er schaut durch seine randlose Brille zufrieden auf die Demonstrierenden, die über den Pariser Platz ziehen. „Eine richtige Volksversammlung ist das hier!“ Berndt sagt, er sei heute nicht als Politiker, sondern als Privatperson hierhergekommen. „Wir müssen aufpassen, dass unsere Demokratie keinen Schaden erlangt.“ Es gebe keinerlei medizinische Notwendigkeit, die Grundrechte einzuschränken. Der Laborarzt gehört wie Björn Höcke zum rechten Rand der AfD. Auf der letzten Landesliste stand Berndt auf Platz 2, gleich hinter dem bisherigen Landes- und Fraktionschef Andreas Kalbitz. Offenbar plant er auch, Kalbitz zu beerben, worüber er an diesem Samstag aber schweigt. Berndt sagt nur, es sei richtig gewesen, dass Kalbitz zurückgetreten ist. „Nun kann endlich wieder Ruhe einkehren.“

Während sich Berndt incognito unter die Protestierenden mischt, macht es sein Parteikollege Enrico Komning anders. Komning ist Bundestagsabgeordneter und Sympathisant des offiziell aufgelösten rechtsnationalen Flügels der Partei. Mit einem großen Plakat hat er sich der Demo angeschlossen. „Keine Hygiene-DDR“ steht in großen Lettern darauf. Darunter prangt das AfD-Logo. Immer wieder wird Komning von Passanten gegrüßt.

Kritisch sehen all das Jolanda und Martha, beide 21 Jahre alt. „Wir haben ein Problem mit Rechtsextremisten, daher können wir uns auch nicht vollständig mit der Demo identifizieren“, meint Martha, die gerade eine Ausbildung zur Schneiderin macht, blaue Chucks und Blümchenkleid trägt. Trotzdem würde sie es nerven, wie die öffentlich-rechtlichen Medien über die Corona-Demos schreiben würden. „Immer wird der Fokus nur auf rechte Teilnehmer gelegt. Unsere Kritik an der aktuellen Corona-Politik wird nicht ernst genommen“, findet Jolanda. Martha nickt, während neben ihnen etwa dreißig Reichsflaggen wehen. „Wir sind Mensch, kein Personal“, ruft einer der Flaggenträger. Ein anderer hält ein Plakat: „Friedensvertrag jetzt!“

Selfies mit dem Identitären

Auf der anderen Seite des Brandenburger Tors steht Martin Sellner, Chef der österreichischen Identitären. Warum ist er hier? „Primär wegen der Heuchelei der Regierung. Und weil die Demo eine patriotisch-nationale Ausrichtung hat.“ Es ist das erste Mal, dass er sich den „Querdenkern“ anschließt, doch schon früher sah er das Potenzial. In einem Beitrag für Götz Kubitscheks Sezession schrieb er mal: „Neurechte Kreise könnten sich dank jahrelanger Erfahrung in politischer Organisation tätig in Protesten hervortun und dabei Qualität, Weltanschauung und Strategie einbringen.“

Immer wieder kommen Demonstrierende zu Sellner, wollen Selfies mit ihm machen. Einer drückt ihm eine Visitenkarte in die Hand, sagt: „Wenn du mal in Dresden bist und nicht nur eine patriotische, sondern auch eine einheimische Stadtführung willst.“ Ein anderer fragt im Vorbeigehen seine Begleitung: „Ist das nicht der Sellner?“ Als seine Begleitung nickt, grüßt der Mann wohlwollend. Auch die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Identitären sind hier sichtbar willkommen.

Sellner wird von einem identitären Aktivisten aus Rostock begleitet, der seinen Namen nicht verraten möchte. Trotzdem sagt er: „Dieser Protest hier ist ein positives Bekenntnis zur Nation. Ich bin hier aber nicht als Aktivist, sondern nur als Patriot.“ Auch Sellner stimmt dem zu: „Wir wollen den Protest nicht vereinnahmen.“ Dann verabschieden sie sich. Sie müssten nun weiter zur Siegessäule.

Am Großen Stern ist am Nachmittag das Gedränge groß. Niemand trägt eine Maske. Deeskalationsteams sind bemüht, die Menschen dazu zu bringen, die Mindestabstände einzuhalten, meist ohne Erfolg. Dennoch wird die Ansammlung nicht aufgelöst. Im Gegensatz dazu war die eine Woche früher geplante Demo zum Gedenken an das rassistische Attentat in Hanau ganz abgesagt worden – aus Infektionsschutzgründen. Von denen wollen die Querdenker nun wirklich nichts wissen.

Am Nachmittag betritt ein unerwarteter Gast die Bühne, begleitet von großem Applaus. Robert Kennedy jr., Sohn des 1968 im Wahlkampf ermordeten Senators und Justizministers Robert F. Kennedy – dem jüngeren Bruder John F. Kennedys. Er ruft: „In den Vereinigten Staaten behaupten die Zeitungen, ich wäre hierhergekommen, um mit 5.000 Nazis zu sprechen. Wenn ich in die Menge schaue, sehe ich das Gegenteil von Nazis.“ Und: „Vor 50 Jahren kam mein Onkel J.F. Kennedy nach Berlin. Berlin war die Front gegen den Totalitarismus. Und heute ist es wieder so: Berlin ist die Front gegen den Totalitarismus. Und deshalb können wir heute wieder stolz sagen: Ich bin ein Berliner.“ Alle klatschen, auch ein Mann mit dem T-Shirt-Aufdruck „Operation Walküre 2.0“.

Während die eingeladenen Redner ihre Reden halten, vergrößert sich die Menschentraube um Sellner. Große eingerollte Transparente werden angeschleppt – und dann, auch von Sellner, zu den Stufen unter der Siegessäule getragen. Als gerade eine Frau auf der Bühne andächtig singt, entrollen die Identitären unter Jubel der Anwesenden ihre Transparente: „Wir sind das Volk“. So sieht es also aus, wenn Aktivisten eine Demo nicht vereinnahmen wollen.

Wie es aussieht, wenn ein friedlicher Protest eskaliert, ist später vor dem Reichstagsgebäude zu sehen. Rechtsextreme erklimmen die Treppen vor dem Parlament, gelangen beinahe problemlos an wenigen Polizisten vorbei hinter die erste Absperrung. Die Demonstration zu vereinnahmen, schaffen die Rechten an diesem Tag zwar nicht, bilden aber medienwirksam die Speerspitze einer ansonsten noch reichlich stumpfen Bewegung.