Erschienen am 20.10.2020 bei VICE, Foto oben: Eva Kienholz
„Vergiss nicht, später die Fingerabdrücke wegzumachen“, sagt Rocco ernst zu einem seiner Brüder. Der grinst zurück. Klaro, wird gemacht. Wir sind in einer Kleingartensiedlung. Vor uns liegen ein riesiger Metallpfosten, der stärkste Kleber, den es so im Baumarkt zu kaufen gibt, und ein Haufen echte Berliner Straßenschilder: Lüderitzstraße, Kiautschoustraße, Nachtigalplatz, Mohrenstraße, Petersallee. Die Schilder haben Rocco und seine Brüder am Vorabend mitten in der Stadt abgeflext. Alle diese Namen eint ein kolonialer Hintergrund.
Rocco und seine Brüder stehen mit dem Gesetz im Konflikt, deshalb wollen sie anonym bleiben. Als urbane Aktionskünstler prangern sie mit spektakulären Installationen Rassismus, Diskriminierung oder Rechtsradikale an. Einmal hängten sie mitten in Berlin eine Puppe in neonbunter Weste an einen Baukran, um auf in solchen Westen angeschwemmte Leichen Geflüchteter aufmerksam zu machen.
Ein anderes Mal hämmerten sie vor einem AfD-Büro Stolpersteine für die Wehrmacht in den Asphalt. Anfang dieses Jahres installierte das Kollektiv ein Büro mit Schreibtisch, Zimmerpflanze und blauem Teppich in einem U-Bahnschacht – als Mahnmal für die CDU, die zwar gegen den Berliner Mietendeckel vorgeht, aber gleichzeitig wegen steigender Miete aus ihrem eigenen Büro ausziehen muss. Willkommen in Absurdistan.
„Jetzt ist die richtige Zeit, etwas zum Kolonialismus zu machen,“ sagt Rocco, während er mit seinen Brüdern ein Schild nach dem anderen an den Pfosten montiert. „Ständig wird über diese Namen geredet, aber trotzdem passiert nichts“, sagt er. Oder nur sehr wenig: Erst nach jahrelangem Streit wurde im August 2020 offiziell beschlossen, die Mohrenstraße in Berlin-Mitte umzubenennen. Der gleichnamige Bahnhof existiert aber immer noch. Und den wollen Rocco und seine Brüder bald besuchen.
Wer die Brüder für ein paar Tage bei ihren Aktionen begleitet, erlebt eine lässige Professionalität. Selbst in heiklen Situationen reißt irgendjemand einen Witz – trotzdem geht alles sehr zügig. So spricht und bewegt sich auch Rocco selbst: schnell. Manchmal erzählt er den zweiten Satz einer Geschichte vor dem ersten. Erwischt wurden die „Brüder“ noch nie bei ihren oft illegalen Aktionen. Rocco sagt: „Man muss auf alles spontan reagieren.“
Am nächsten Morgen ist der Kleber getrocknet, die Fingerabdrücke abgewischt. Über den Pfosten mit den kolonialen Straßenschildern werfen Rocco und Brüder eine Plastikplane. Der Pfosten ist reisefertig. Heute sind die Aktivisten zu viert. Drei sind in Bauarbeiterkluft angerückt. Der Vierte soll alles fotografisch festhalten. Das ist wichtig, denn sobald ihre Installationen entdeckt werden, sind sie auch schon Geschichte. Es ist Protestkunst mit kurzem Verfallsdatum in der analogen Welt. Digital leben die Aktionen weiter.
Pekinger Platz: Kolonialismus abflexen
Aus dem Kleingarten fahren die falschen Bauarbeiter mit dem Pfosten zum Pekinger Platz, Berlin-Wedding. Nicht nur in Afrika, sondern auch in China hatte Deutschland Kolonien. „Hunderttausende von Chinesen werden erzittern, wenn sie die eiserne Faust des Deutschen Reichs schwer in ihrem Nacken fühlen werden“, hatte 1897 der deutsche Kaiser Wilhelm II. gesagt. Daraufhin setzten zwei deutsche Kriegsschiffe etwa 700 Matrosen bei der kleinen Ortschaft Tsingtao in Kiautschou ab. Eine „Musterkolonie“ wollten die Deutschen errichten. Heute haben Rocco und seine Brüder am Pekinger Platz etwas ganz anderes vor.
Sie stellen mitgebrachte Bauabsperrungen auf. Das fünfnamige Straßenschild soll mittig in einen Kompass aus Stein befestigt werden, der hier ins Pflaster eingelassen ist. Mit ihren Warnwesten sehen Rocco und seine Brüder tatsächlich aus wie Straßenbauer. Niemand stört sie bei ihrer Arbeit, bis eine alte Frau an den Absperrungen stehen bleibt. Sie fragt: „Machen Sie das auch genauso schön wie vorher?“ Rocco grinst und sagt: „Noch schöner!“
Dann geht die Dame und bei den Brüdern geht alles ganz schnell. Einer bohrt in die Mitte des Kompasses und fixiert den Pfosten mit einer Stahlhülse und einer ordentlichen Portion Zement im Boden, sodass die meisten Schilder nach Süden weisen, in Richtung Afrika. Der Fotograf steht Schmiere, bis der Arbeitertrupp die Plane lüftet. Ein paar Fotos, zurück zum Auto und weg, High Five. Nur zwei Minuten später bleibt ein junges Paar am Kompass stehen, er ist Schwarz, sie ist Weiß, er liest die Straßennamen laut vor, sie sagt: „Ah, da geht es um Kolonialismus.“ Er nickt.
„Was wir machen, ist Kunst-Aktivismus“, erklärt Rocco, während er, zurück im Garten, an seinem Laptop eine Audiodatei anhört. Die wird im zweiten Teil der Aktion wichtig. „Mir gefällt es aber auch, wenn bei manchen Aktionen die Kunst eine untergeordnete Rolle spielt“, sagt er. „Einfach auf die Fresse.“
Mohrenstraße: Auf Sendung unter der Erde
Nächste Station: die U-Bahn-Haltestelle Mohrenstraße in Berlin-Mitte. Rocco hat jetzt einen Generalschlüssel, einen MP3-Player und Lautsprecher im Gepäck und wird von einem Bruder begleitet. Beide sind unauffällig gekleidet, die aktuelle Maskenpflicht hilft bei der Tarnung. Als in der Station die U-Bahn in Richtung Pankow wegfährt, geht’s los. Die beiden nähern sich einem Wartungshäuschen in der Mitte des Bahnsteigs. Rocco hat den Generalschlüssel schon in der Hand. Woher er den hat, verrät er nicht.
Die Scheiben des Häuschens sind nach außen hin verspiegelt, doch wenn man ganz nah ans Glas herantritt, kann man sehen, ob jemand drin ist. Keiner drin, also rein. Rocco packt Equipment aus, verbindet den MP3-Player mit den Boxen, doch dann: „Shit. Ist zu leise, würde man nicht im ganzen U-Bahnhof hören.“ Wieder alles in den Rucksack, raus aus dem Häuschen, die Treppen hoch zur Straße. „Ich muss nochmal nach Hause und die Audio-Datei bearbeiten.“
Nicht mal eine Stunde später ist Rocco wieder da. Als er an der Mohrenstraße die Tür zum Wartungshäuschen aufschließt, wundert er sich: „Schau mal, die zwei Plastikflaschen waren eben noch nicht da, oder?“ Sein Bruder schüttelt den Kopf. „Nee, da war wohl jemand in der Zwischenzeit drin. Los, ziehen wir’s schnell durch.“
Rocco packt wieder sein Equipment aus, verbindet den MP3-Player mit den Boxen. Laut genug? Ja, laut genug. Rocco klemmt zwei Zahnstocher in die AN-Taste der Sprechanlage und blockiert sie so. Er drückt auf seinem MP3-Player auf Play, alles läuft, also schnell raus. Rocco verschließt das Häuschen von außen. Dann bricht er kurzerhand den Schlüssel in der Tür ab. Und macht los.
Unten im U-Bahnhof ertönt laut und klar immer wieder eine Frauenstimme:
„Carl Peters. Kolonialist, Rassist. Begründer der Kolonie Ost-Afrika. Er verhängte Todesstrafen willkürlich, oft aus rein persönlichen Gründen gegen die indigene Bevölkerung, folterte, unterdrückte, tötete. … Eine Straße in Berlin trägt seinen Namen. Der Kolonialismus und seine Verbrechen werden glorifiziert. Und – es gibt die Mohrenstraße. …“
Es dauert nicht lange, bis jemand von der Dauerbeschallung zu viel kriegt. Eine ältere Frau mit langem grauen Strickmantel flucht, schon fast hysterisch: „Scheiß BVG! Wir haben es jetzt verstanden. Wir haben es jetzt ge-hö-ört. Ey, was soll das denn? Lasst mich in Frieden. Lasst mich doch endlich in Ruhe!!“ Als die U-Bahn in Richtung Ruhleben hält, flüchtet die Frau in ein Abteil, schimpft weiter, schüttelt den Kopf.
Viele Menschen nehmen aber auch ihre Kopfhörer raus, lauschen, drehen sich um, wie um die Quelle der Worte zu erspähen. Nach über einer Stunde bleibt jemand am Häuschen stehen, schaut rein, zieht und drückt an der Tür, die nicht nachgeben will. Es ist ein Mitarbeiter der BVG. Er trägt seine ergrauten Haare zum Zopf, in der Hand hält er etwas, das an einen Arztkoffer für Kinder erinnert. Statt einem Kreuz steht auf dem Koffer „Betrieb“. Der Mann zückt sein Funkgerät.
Es dauert nochmal etwa eine halbe Stunde, bis die Polizei anrückt. Doch auch die kriegt die Tür nicht sofort auf. Fast zwei Stunden stecken die zwei Zahnstocher in der Durchsage-Taste der Sprechanlage und beschallen die Station mit Infos über Kolonialverbrechen.
Es bleibt das Gefühl von: man selbst rennt, während alle anderen stehen.
Rocco ist zufrieden. „Fast nirgendwo sonst kommen so viele und so unterschiedliche Menschen zusammen wie in der U-Bahn.“ Außerdem hätten er und seine Brüder einen Hang, unter die Erde zu gehen, denn sie alle kommen ursprünglich aus der Graffiti-Szene. Für die Berliner Verkehrsbetriebe hat Rocco nicht so viel übrig. „Die BVG versucht zwar nach außen hin mit ihrer Werbekampagne ‚Weil wir dich lieben‘ cool zu wirken, aber in Wirklichkeit ist sie ein erzkonservativer Verein.“ Rocco lächelt und sagt: „Mich lieben die sicher nicht.“
Irgendwann an diesem Tag sagt Rocco über sein früheres Sprayer-Ich: „Graffiti ist natürlich auch immer irgendwo eine Flucht.“ Er habe irgendwann etwas machen wollen, das nicht nur sein Ego befriedigt, sondern den Menschen etwas bringt, zum Nachdenken anregt. Vielleicht ist die Aktionskunst von Rocco und Brüdern ja auch einfach der Versuch, gleichzeitig sich selbst zu verwirklichen und dabei etwas zu machen, was über das eigene Ich hinausweist. Ob das immer klappt, sei jetzt mal dahingestellt. Aber für einige Tage ihrer Energie beizuwohnen, gleicht einer rasanten Reise. Es bleibt das Gefühl von: Man selbst rennt, während alle anderen stehen.
Kurfürstenstraße: Die Stadt schließen sie sich selbst auf
Es ist ein Samstagmorgen, als Rocco mit fünf zusammengerollten Plakaten auf den Parkplatz eines Baumarktes läuft. Diese Plakate sollen schon bald an verschiedenen Stellen der Stadt in Vitrinen hängen. Aber etwas fehlt noch – die Vitrinen öffnen sich ja nicht von selbst. „Ich brauch den Schlüssel zur Stadt“, erklärt Rocco. Mit einem Rohrsteckschlüssel und einer langen Schraube verlässt Rocco den Baumarkt wieder und flext mitten auf dem Parkplatz zwei Rillen ins Metall. Ein Bruder kommt dazu.
Zuerst geht es zur U-Bahnstation Afrikanische Straße. Schnell ist eine nahe Vitrine geöffnet, der Stadtschlüssel funktioniert. Aktuell wirbt dort ein Poster für einen Lebensmitteldiscounter. Rocco will das ändern. Doch das Plakat, das er und seine Brüder für diese Aktion angefertigt haben, will nicht halten. Also geht der eine Bruder in einen nahen Blumenladen, kommt nach wenigen Minuten zurück. An seinem schwarzen Sweatshirt haften an Bauch und Arm zwei lange Tesastreifen. „Hat mir die Mutti da hingeklebt!“
Rocco rollt das Plakat aus. Darauf abgebildet ist ein weißer Kolonialherr, der sich offensichtlich von einem afrikanischen Kind bedienen lässt. Oben steht: „Na, Mibia, darf es ein Trinkgeld sein?“ Der vermeintlich Verantwortliche wird im unteren Teil des Plakates genannt: „Die Bundesregierung.“ Genauer: Das „Bundesamt für Aufarbeitung deutscher Kolonialverbrechen.“ Dazu der Text: „10 Millionen Entschädigung für einen Genozid sind doch voll OK.“
Zum Hintergrund: Kürzlich hat die namibische Regierung das Entschädigungsangebot Deutschlands für die Verbrechen in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika abgelehnt. Zehn Millionen Euro soll die Bundesregierung für den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts angeboten haben. Bis zu 100.000 Herero und Nama starben vor etwas mehr als hundert Jahren. „Diese lächerliche Summe muss doch auf Namibia wie ein Mittelfinger wirken“, meint Rocco. „Und sie zeigt, wie wenig Deutschland bereit ist, Verantwortung für diese Verbrechen zu übernehmen.“
Plakate als Medium mögen die Brüder bei ihren Aktionen ohnehin. 2019 haben sie Dortmund umplakatiert. Mit etwa der Aufschrift „Lieber Schalkesieg als Nazikiez“, darunter ein Foto von Borussia Dortmunds Mannschaftskapitän Marco Reus, starteten sie eine vermeintliche Kampagne des BVB. Der Verein distanzierte sich sofort. Das Künstlerkollektiv wollte mit der Aktion auf Rechtsextreme im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld aufmerksam machen, aber auch auf alte rechte Verquickungen von Teilen der Fanszene hinweisen. „Wir wollen Menschen in ihrer Komfortzone stören“, erzählt Rocco. Als Jugendlicher habe er sich mit Rechtsradikalen geprügelt, „heute habe ich eine andere Ausdrucksweise.“
Für den letzten Teil der Aktion fahren wir von der Afrikanischen Straße mit dem Auto zum Mehringdamm. „Da ist immer gut was los“, meint Rocco, kurz bevor er das zweite Plakat aufhängt. Das alte Plakat stopft er unten in die Vitrine, damit man ihm zumindest nicht Diebstahl vorwerfen kann. Er weiß auch genau, wo in der Stadt die Werbung noch nicht digitalisiert worden ist. Am liebsten sind Rocco die klassischen Vitrinen, in denen die Plakate nicht automatisch zirkulieren. So eine gibt es noch in der Kurfürstenstraße. Überirdisch und unterirdisch behängt Rocco die Vitrinen der U-Bahnstation.
„Na, Mibia, darf es ein Trinkgeld sein?“
Auch Tage später hängen die Poster noch.