Erschienen in DUMMY Magazin, Ausgabe 70: Vertrauen, Foto oben: privat
Alles begann mit der Deutung von Träumen. Sylvia Vogt war Krankenschwester, ihr Mann Walter Vogt Pastor in einer evangelisch-methodistischen Kirche in Darmstadt. Beide waren Mitte dreißig, beide inspiriert von dem Psychologen C.G. Jung. Der hatte mal geschrieben, dass Gott oft in Träumen und Visionen zu den Menschen spricht. Auf diesem Fundament bauten sie Anfang der Achtzigerjahre ihre Glaubenslehre.
Als die Kirchenleitung davon erfuhr und mit Entlassung drohte, trat Walter Vogt aus der Kirche aus und zog mit seiner Familie und 14 Anhängern ins hessische Hanau, alle in direkte Nachbarschaft. „Wir können und wollen nicht gegen die inneren Tatsachen erklären, mit denen Gott das Leben bestimmt“, hieß es in seinem Abschiedsbrief an die Gemeinde. Innere Tatsachen, so nannten die Vogts die Erkenntnisse aus ihren Träumen.
Während Sylvia Träume deutete, ließ sich Walter Briefe von Gott diktieren. „Ich fand zuhause alles seltsam“, erinnert sich Lukas Vogt, der jüngere leibliche Sohn, heute. Um zu erzählen, was er früher durchgemacht hat, ist er zurück nach Hanau gereist, zurück in seine Vergangenheit. Mit 18 Jahren ging er fort. Heute ist Lukas 42 Jahre und Fotograf. „Permanent ging es um den ‚Alten‘, so hieß Gott bei uns.“ Lukas lacht kurz auf, schüttelt dabei den Kopf, so als wüsste er genau, wie schräg seine Erzählung wirken muss. „Kontakt zu Kindern von ‚draußen‘ war mir komplett verboten.“ Stattdessen zählten nur der „Alte“ und sein „Werk“ – das war erst die Glaubensgruppe, später auch die Firma, die sein Vater Walter mit den Gehältern der Anhänger aufbaute.
Neben ihren zwei leiblichen Kindern, Lukas und Gabriel, hatten die Vogts drei Adoptivkinder, die besonders schlecht behandelt wurden. Sie wurden eingesperrt, geschlagen und durften nur für die Schule oder zum „Essenfassen“ raus. Oft bekamen sie trockenes Brot, das sie sich auf die Heizung legten, um etwas Warmes zu haben. Wenn sie „dreckig“ oder „falsch“ guckten, wurden sie geohrfeigt. In einem von Walter niedergeschriebenen Traum vom 7. August 1983 hieß es: Wenn Sylvia jemandem eine Ohrfeige gibt, ist das die letzte Stufe der Reaktionsmöglichkeit, damit noch Einsicht wachsen kann. Oder soll Gott erst selbst reagieren? Das ist schlimmer.
Sich aufzulehnen wagte niemand. Es hieß, Sylvia werde von Gott gelenkt. Sie selbst schrieb dazu: Der Widerstand eines Menschen gegen mich entspricht (…) seinem Selbstbetrug. „Widerspruch“, bestätigt Lukas, „war schlicht und ergreifend nicht möglich. Man wurde von Sylvia vor der Gruppe diskreditiert und anschließend stundenlang angeschrien und als ‚Drecksau‘ oder ‚Miststück‘ beschimpft, um im nächsten Moment zu hören: Ich hab’ dich ja so lieb.“
Im Februar 1981 lernte die 23-jährige Krankenpflegerin Beate Peters die Vogts kennen – mitten in einer Lebenskrise. Sie führte eine unglückliche Ehe und hatte gerade ein Neugeborenes adoptiert. Ihre beste Freundin hatte sie überredet, einmal mitzukommen. Wenn Beate heute, bei einem Spaziergang durch Kassel, an dieses erste Treffen vor genau vierzig Jahren zurückdenkt, sieht sie zuerst Sylvia vor sich: „Sie hatte einen unglaublich klaren Blick. Es schien immer so, als könnten ihre hellen Augen einen durchleuchten. Und sie strahlte Autorität aus.“ Auch Beate war von dem Gedanken fasziniert, Gott könnte durch ihre Träume reden und sie mithilfe von Sylvias Deutungen zu einem wahrhaftigeren Menschen werden lassen. Also überredete sie ihren Mann, am nächsten Wochenende gemeinsam zu den Vogts zu fahren. Dass von da an ihr Leben noch schlimmer würde, hätte sie nicht für möglich gehalten.
Zwischen 1982 und 1984 schrieb Sylvia Vogt vier Bücher. Grundlage dafür waren Träume von ihr selbst und anderen Angehörigen der Gruppe, die sie aufschreiben und ihr aushändigen mussten. Herausgegeben wurden die Bücher im Eigenverlag von Walter Vogt und Achim Lehmann, einem Pastor, der sich den Vogts angeschlossen hatte. Die Bücher bestehen beinahe vollständig aus Träumen, die beweisen sollen, dass Sylvia von Gott beauftragt wurde, die Menschheit zu retten: Würde ich das, was ich durch Gott zu sagen habe, ohne die Träume sagen müssen, könnte ich es nicht beweisen. So aber hilft Gott durch die Träume mit und erklärt mich auch in vielen Träumen anderer genau zu dem, was er mir auch selbst gezeigt hat, nämlich als wahren Menschen, dem Gott die Vollmacht gibt, andere von ihrer destruktiven Besessenheit zu befreien.
Um ihre Bücher – sie heißen Wahrheit bleibt Wahrheit und Gott hat in jedem Menschen die totale Macht – zu vermarkten, verteilten die Anhänger, viele in akademischen Berufen, Prospekte. Gott steht so hinter Sylvia Vogt, dass die Bibel vollständig ersetzt wird, hieß es da. Oder: Gott will, dass es zur Sache des Volkes wird. Darum sollte auch eines der Bücher in den Schulen zur Pflichtlektüre gehören.
„Wir haben unser ganzes Gehalt an die Vogts abgegeben“, erzählt Beate Peters, während sie in einem langen schwarzen Mantel durch den Schnee läuft, der an diesem Januartag ganz Kassel bedeckt. Hierhin ist sie gezogen, nachdem sie 1990 die Sekte verlassen hat. „Mir blieb damals nur ein kleines Taschengeld.“ Sylvia forderte alle Frauen auf, ihre Haare mit Seife zu waschen und statt Damenbinden Waschlappen zu benutzen – unnötige Kosten einsparen fürs Werk vom „Alten“. Sylvia selbst hätte sich hingegen teure Kosmetik aus Paris bestellt.
Bei den Vogts wohnten zwischenzeitlich einzelne Anhänger mit ihren Kindern sowie mehrere Jahre noch eine andere Familie: die Lehmanns. Achim, der ehemalige Pastor und Mitherausgeber der Bücher, seine Frau Corinna und ihre beiden Söhne David und Aaron. Von 1982 bis 1987 lebten sie im Kellergeschoss des schlichten Einfamilienhauses. Noch heute gehören die Eltern der Sekte an. Die Kinder sind vor fast zehn Jahren ausgestiegen. Seine Kindheit beschreibt David, der heute als selbstständiger Musikproduzent arbeitet, in einem Videogespräch als Wechselspiel aus Zuckerbrot und Peitsche. „Mal gab es von Sylvia Liebe und Zuneigung, dann Demütigungen und Drohungen. Wenn wir Sylvia nicht vertrauen, dann werden wir im Jenseits dafür büßen müssen, hieß es immer.“
Dem „Draußen“ – der Gesellschaft oder der Politik – durften die Sektenmitglieder schon gar nicht vertrauen. Palettenweise wurden Lebensmittel eingekauft und eingelagert, um für einen bevorstehenden Krieg gewappnet zu sein. Der „Alte“ hatte nämlich verkündet, es gäbe geheime Pläne für einen Überraschungsangriff „der Russen“. Um einem atomaren Angriff zu entfliehen, brachen einige der Gruppe 1985 in mehreren Autos und einem alten Mercedes-Bus auf ins europäische Ausland – darunter die Vogts und die Lehmanns. Die anderen mussten fleißig weiterarbeiten, Untergang hin, Untergang her, darunter Beate, die kurze Zeit später eine Umschulung zur Grafikdesignerin machte und in Frankfurter Werbeagenturen gut verdiente. Es galt, Karriere zu machen, um Geld für das „Werk vom Alten“ ranzuschaffen.
Die Reise ins europäische Ausland führte über Frankreich und Spanien bis nach Gibraltar. Von da aus könnte die Gruppe im Notfall eine Fähre nach Afrika nehmen. In Spanien sammelte Sylvia mehrere Straßenhunde ein. Einer davon, so erzählt es Lukas, war ein völlig verstörter Belgischer Schäferhund, der sehr auf Sylvia fixiert gewesen sei. „Meine Mutter bezeichnete ihn als Jesus von Nazareth.“ Nachdem der Hund gestorben war, behauptete Sylvia, er arbeite im Himmel für sie weiter.
Irgendwann kehrte die Gruppe wieder zurück nach Hanau. Der Krieg würde sich verzögern, hieß es plötzlich. Der „Alte“ hätte nämlich ordentlich dagegengesteuert. Auch das war Teil des Systems: Wenn Vorhersagen doch nicht eintrafen, wurde nie an der Traumdeutung gezweifelt. Es waren dann immer der „Alte“ oder die „Dunklen“, die den Ereignissen eine neue Wendung gegeben hatten.
Sowieso zählte nie der Mensch, nur Gott galt als alleinige Kraft. Lukas erinnert sich: „Wenn ich in der Schule eine gute Note geschrieben hatte, dann lautete die Standardantwort meiner Mutter: ‚Aber bild dir ja nichts darauf ein, da hat dir der „Alte“ geholfen.‘“ Wenn etwas nicht nach Plan lief, griffen die „Dunklen“ nach ihm. „Letztlich war ich nur eine Marionette, deren einzige Fähigkeit darin bestand, sich von der einen oder der anderen Seite steuern zu lassen.“ Erst vor zehn Jahren hätte er angefangen, wieder Menschen zu vertrauen.
Jeden Sonntag versammelte sich die Gruppe um den großen Wohnzimmertisch der Vogts. Zuerst gab es Kaffee und Kuchen. Dann wurde es ganz still – und Sylvia las die Briefe des „Alten“ vor, den nur sie selbst „Alterchen“ nennen durfte. Wer etwas sagte, machte sich angreifbar. Wenn Sylvia etwas „gerochen“ hatte, begann sie mit einem Verhör. Ihre Nase, so behauptete sie, hätte der „Alte“ mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet. Einmal ging es um eine Praline, die eines Tages vom Fensterbrett verschwunden war. Daraufhin gab es einen mehrtägigen Prozess, der einer inquisitorischen Befragung glich. Wer andere denunzierte, konnte sich bei Sylvia kurzzeitig beliebt machen. Dadurch gelang es, alle gegeneinander auszuspielen und persönlich zu isolieren.
Als Lukas an seinem Elternhaus vorbeikommt, wird sein Schritt schneller. Er fühlt sich sichtbar unwohl. Dann erzählt er, dass er eineinhalb Jahre nur darauf gewartet habe, volljährig zu werden, um endlich ausziehen zu können. Schöne Momente habe er in seiner Kindheit nur ganz selten gehabt. „Wenn ich mir einen Traum ausgedacht habe, der Sylvia schmeichelte, dann konnte es ein schöner Tag werden. Doch auch so ein Tag war hochgradig fragil: Ein falsches Wort, ein falscher Blick, und schon zersprang alles.“
Jede Woche griffen sie auf dem Markt Obst und Gemüse ab, das nicht mehr verkauft werden konnte. Anschließend schnitten sie die verschimmelten Stellen heraus. Es wurde dann so sehr verkocht oder angebraten, dass es nicht mehr schimmelig schmeckte. Als Lukas mal eine geöffnete Salamipackung im Kühlschrank fand, die schon seit Jahren abgelaufen war, erfand er das Wort „salamigrün“.
Innerhalb der Gruppe gab es einen Jungen, der in den Augen Sylvias nichts richtig machen konnte: Jan Huber. Er wurde 1984 geboren, da waren seine Eltern, Kerstin und Herbert, schon treue Anhänger der Vogts. Seitdem er auf der Welt war, sagte Sylvia immer wieder: „Das ist ein schlimmer Komplex mit dem Jungen.“ Eines Tages hieß es: „Wenn ihr wüsstet, wer das ist.“ Dann ließ sie die Bombe platzen: „Das ist die Reinkarnation Adolf Hitlers.“
Selbst Jans Eltern schluckten Sylvias Urteil. Schließlich wurde es als „Botschaft vom Alten“ vermittelt. Von nun an sollte das Kind von Sylvia und Walter „kuriert“ werden – mit drakonischen Maßnahmen. So wie alle Kleinkinder im Hause Vogt wurde auch Jan zum Schlafen in einen Leinensack gesteckt. Während die Säcke bei den anderen Kindern am Hals endeten, wurde Jans Sack über dem Kopf verschnürt und er auf eine alte Matratze ins Badezimmer gelegt. Wenn Jan schrie, wurde ihm sein Mund mit Seife und Salz ausgewaschen oder mit Brei vollgestopft. Wenn er davon brechen musste, wurde er mit seinem Erbrochenen gefüttert.
Einmal fand Beate Peters den Jungen auf dem Badezimmerboden. Erst dachte sie, da würde ein Bündel Bettwäsche liegen, bis ihr klar wurde, dass es sich um Jan handelte, der „wie eine Mumie bis über den Kopf in einem weißen Sack eingebunden war“, erzählt sie. „Ich war zutiefst geschockt. Sylvia aber schrie: So wie sie mit Jan umgehen würde, wolle es Gott – und ich würde sie nur schlechtmachen. Damit würde ich mich gegen Gott auflehnen.“ Da hätte ihr Vertrauen zu Sylvia zu bröckeln begonnen.
Immer wieder wurden den Gruppenmitgliedern zehn Traumaussagen über Sylvia eingetrichtert, die Gott in einem Brief Walter diktiert haben soll:
Sylvia ist eine große Seherin.
Sylvia hat ihre Gabe zu sehen von Gott.
Sylvia ist die Brücke über den Abgrund.
Sylvia ist so, wie sie Gott geschaffen und gewollt hat.
Sylvia ist nicht überheblich.
Sylvia ist der demütigste Mensch auf der ganzen Welt.
Sylvia ist von Herzen fromm.
Sylvia hat von klein auf geübt, lieb zu haben.
Sylvia maßt sich nichts an und bildet sich nichts ein.
Gott zu lieben fängt damit an, die Sylvia lieb zu haben.
Der Brief endete mit den Worten: In ewiger Liebe, dein großer Gott und Schöpfer, dein geliebtes Alterchen, deiner. Irgendwann hätte Sylvia Walter nur noch als Sprachrohr Gottes wahrgenommen, erzählt Lukas. „Wenn meiner Mutter ein Brief nicht gefiel, schickte sie Walter noch mal zurück an den Schreibtisch.“
Am 17. August 1988 starb Jan im Alter von vier Jahren. Erstickt an seinem Erbrochenen, fest eingeschnürt im Leinensack, auf der alten Matratze im Badezimmer. Walter versuchte noch, Jan wiederzubeleben, doch es war zu spät. Bevor die Polizei eintraf, legten sie das Kind in ein Bett und ließen Matratze und Leinensack im Keller verschwinden. Walter sprach von einem tragischen Unfall, der Junge sei im Schlaf an seinem Erbrochenen erstickt. Er erzählte nichts vom Leinensack, nichts von den Misshandlungen, nichts von Sylvias angeblich göttlicher Berufung. Die Polizei glaubte ihm. Eine Obduktion wurde nicht durchgeführt. Innerhalb der Gruppe wurde Jans Tod schnell unter den Teppich gekehrt. Es hieß nur, der „Alte“ hätte nichts mehr machen können, darum hätte er ihn „geholt“. Selbst Jans Eltern fanden sich damit ab. Sie hatten ihren einzigen Sohn ohnehin komplett den Vogts überlassen.
Zwei Jahre später packte Beate ihren Sohn ins Auto und verschwand heimlich. Wenige Monate zuvor hatte sie mit einer „Sondergenehmigung“ ein Trickfilmseminar in Offenbach begonnen und dort einen Mann kennengelernt, mit dessen Hilfe sie den Absprung schaffte. Heute sagt sie: „Seinen eigenen Instinkten zu vertrauen, das ist wohl der schwierigste Prozess beim Ausstieg aus einer Sekte.“
Bereits ein Jahr zuvor hatte Walter Vogt eine Medienproduktionsfirma gegründet, die Filme und Fotos für Unternehmenskommunikation anbot – so hatte ihm das Gott in einem Brief diktiert. Er nannte sie AEON, abgeleitet von Äon, Ewigkeit. Auch in der Firma hielt Sylvia die Fäden in der Hand; bei allen firmeninternen Belangen wurde sie um Rat gefragt. Und diejenigen aus der Gruppe, die sich irgendwie in die Firma einbringen konnten, wurden dort angestellt. Die Arbeitszeiten waren lang, die Löhne mies, aber das war egal. Viele hatten den Vogts eh Vollmachten über ihre Konten gegeben – und die volle Macht über ihr Leben.
Die Neunziger liefen gut für die Firma. Mit dem Vermögen der Sektenangehörigen wurde teures Filmequipment angeschafft. Walter erhielt als Geschäftsführer lukrative Aufträge von großen Unternehmen und von der Stadt. Die Brüder-Grimm-Festspiele, die einmal jährlich in Hanau stattfinden, hat AEON jahrelang filmisch begleitet.
Mit 21 Jahren kehrte Lukas Vogt nach Hanau zurück. Er wollte eine Ausbildung zum Mediengestalter in der Firma machen. Vorher hatte er vieles beruflich angefangen und wieder verworfen. Aber eigentlich sehnte er sich „nach Liebe, nach Anerkennung, nach Sohn-Sein“. „In der Firma begriff ich, dass alle noch in der Lage waren, mit der Außenwelt zu interagieren, nur bei meiner Mutter fehlte diese Kompetenz vollständig.“ Sein Vater hingegen hätte eine Seite an sich gehabt, die auf Außenstehende unfassbar einnehmend und vertrauensvoll wirkte. „Er konnte alle sofort von sich überzeugen“, sagt Lukas. „Sonst wäre die Firma auch nie so erfolgreich geworden.“
Fünf Jahre blieb Lukas bei AEON, 2005 wandte er sich an einen Therapeuten. Mit dessen Hilfe erkannte er, dass sein Vater sowohl Drahtzieher als auch Nutznießer der von ihm erschaffenen Strukturen war. „In dem Moment ist mein ganzes Weltbild zusammengebrochen.“ Heute ist sich Lukas sicher: „Rein faktisch betrachtet hatte meine Mutter das Sagen in dem ganzen Konstrukt, aber davon profitiert hat mein Vater.“ Die Skrupellosigkeit Walter Vogts ging so weit, dass er persönliche Anliegen über die Briefe Gottes mitteilte. 2011 erfüllte er sich seinen größten Wunsch: Mit dem Geld der Anhänger ließ Walter ein Filmstudio bauen, das Millionen kostete. Und er kaufte sich einen Porsche, weil das der „Alte“ so gewollt hätte. Sein Vertrauensmissbrauch gipfelte in den sogenannten Energiezeiten: Um die Energie Gottes wieder aufzuladen, hätte dieser angeordnet, dass alle Frauen der Gruppe mit Walter schlafen müssten. Dafür gab es sogar einen Wochenplan. Außerdem hätten sich Walter und die Frauen im Intimbereich piercen lassen müssen, weil das die Verbindung zum „Alten“ darstellen sollte. 2017 war dann Schluss mit den Botschaften Gottes. Walter starb – woran, ist nicht bekannt. Im Dezember 2011, als das Profistudio gebaut wurde, wandte sich auch der ältere Sohn des Pfarrers und heutige Musikproduzent David Lehmann von den Vogts ab. Fast zehn Jahre liegt sein Ausstieg heute zurück. „Am Anfang wusste ich gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte“, erinnert sich David. „Ich spürte zum ersten Mal, dass ich für alles Verantwortung trage, was zuvor in den Händen Gottes lag.“
In der Hoffnung, andere aus der Sekte herauszuholen, schrieb David Briefe. Auch an seinen jüngeren Bruder Aaron, der ein Jahr später seine Koffer packte. Gemeinsam mit Lukas Vogt verfassten die Brüder einen offenen Brief, den sie an alle AEON-Mitarbeitenden per Mail verschickten. „Hier wollen wir das Schweigen brechen“, beginnen sie ihr Schreiben. „Für die Gruppe, selbst für meine Eltern, sind wir nur noch Verräter, mit denen man nichts mehr zu tun haben möchte“, erzählt David. Auf die Frage, ob ihm seine Eltern heute fehlen würden, antwortet er nur: „Die Eltern, die ich dachte zu haben, die gibt es gar nicht.“
Nachdem die drei Männer die Verzahnung von Sekte und Firma öffentlich gemacht hatten, wurde ihnen von AEON eine Rufmordkampagne unterstellt. „In eigener Sache“, heißt es auf der Website: „Es gibt hier keine Sekte. AEON ist ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen. Religiöse Aspekte sind Privatsache der Mitarbeiter.“ Bittet man die Firma, sich zu den Vorfällen zu äußern, wird lediglich auf diese Stellungnahme verwiesen. „Dem ist aus der Sicht von AEON nichts weiter hinzuzufügen.“
Im Herbst 2014 schrieb die Frankfurter Rundschau zum ersten Mal über die Hanauer Sekte. Es folgten Fernsehauftritte. Durch die Hinweise der Aussteiger und die Berichterstattung wurde der Tod des kleinen Jan nach etwa dreißig Jahren rekonstruiert. Ermittler durchsuchten das Haus, exhumierten die Leiche, lasen Briefe und Bücher der Vogts, um auf mögliche Hinweise zu stoßen. Es dauerte fünf Jahre, bis der Fall ab Oktober 2019 vor dem Hanauer Landgericht verhandelt wurde. Während des gesamten Prozesses schwieg Sylvia Vogt auf der Anklagebank. Nur am Ende der Plädoyers sprach sie – und einmal, als Lukas im Zeugenstand saß. Während ein abgehörtes Telefonat abgespielt wurde, in dem Sylvia ihren Sohn als einen „von den Dunklen besessenen Dreckskerl“ bezeichnet hatte, riss sie plötzlich ihre Augen auf, guckte Lukas an und zischte: „Und das bist du!“ Neben ihr: eines ihrer Bücher. Darin las sie auch, bevor am 24. September 2020 das Urteil verkündet wurde: lebenslange Haftstrafe wegen Mordes aus niedrigen Beweggründen.
Lukas, David und Beate sind froh über das Urteil. Aber sie sind sich ziemlich sicher, dass in der Gruppe dadurch kein Umdenken einsetzen wird, zumal alle dann einsehen müssten, dass sie in diesem System beides sind: Opfer und Täter. Dieses Kapitel wollen die Aussteiger nun endgültig abschließen, weshalb auch die Namen in diesem Text auf ihren Wunsch geändert wurden. Nur bei Sylvia und Walter stimmen die Vornamen. Sowohl die Sekte als auch die Firma existieren noch.
Auf die Frage, ob es eine Nachfolgerin oder einen Nachfolger für Sylvia geben könnte, antwortet Lukas: „Die haben ja jahrzehntelang eingetrichtert bekommen, dass sie dunklen Einflüssen ausgeliefert sind und der einzig wahre Mensch Sylvia ist. Dass nun eine andere Person ihren Platz einnimmt, erscheint mir widersinnig.“ Eher könnte er sich vorstellen, dass seine Mutter als Märtyrerin verklärt wird.