Erschienen in DUMMY Magazin, Ausgabe 84: Nerven, Foto oben: Eva Kienholz
Patienten, die tagelang auf Zwangsstühlen ausharren müssen. Psychisch Kranke, die Bäder in eiskaltem Wasser über sich ergehen lassen müssen. Oder auch der Drehstuhl, auf dem Geisteskranke festgeschnallt wurden, um dann bis zu hundertmal gedreht zu werden – bis zum Erbrechen. Im 19. Jahrhundert gehörten diese Torturen zu den gängigen „Heilungsmethoden“ in der Psychiatrie. Auf etwas „humanere“ Praktiken setzte man erst in der „Staatlichen Irren- und Idiotenanstalt“, die 1880 im märkischen Dalldorf eröffnet wurde – von der sogenannten „moralischen Behandlung“ versprach man sich neue Heilungserfolge. Doch auch hier ging es den Patienten wortwörtlich an den Kragen: Zur Beruhigung wurden sie in Dauerbäder gesteckt, wo sie stundenlang im Wasser liegen mussten – bis zum Hals mit einer Plane bedeckt, um das Wasser warm zu halten.
Ein paar Jahrzehnte später, in den 1930ern, kam die Schocktherapie dazu. Eine damalige Pflegerin berichtete: „Die Patienten mussten mit vier Pflegern vom Bett gehoben werden, an das sie sich mit aller Gewalt krallten. Sie wurden zum Schocken einzeln in ein Zimmer geführt. Eine Schwester hielt den Mundknebel, um den Zungenbiss zu verhindern; ein vor dem Patienten stehender Arzt legte die Anoden an.“ Knochenbrüche und ausgerenkte Kiefergelenke nach dem Elektroschock waren nichts Ungewöhnliches.
Die Geschichte der mehrfach umbenannten Dalldorfer Anstalt, die Ende des 19. Jahrhunderts stellvertretend für viele Irrenhäuser in Deutschland war, ist die Geschichte über den Umgang mit psychisch Kranken und Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Im Laufe der Zeit wurde längst nicht alles besser, manches sogar schlimmer – gerade unter den Nazis. Was genau während der NS-Zeit geschah, wurde jahrzehntelang geheim gehalten. Erst 1984 entdeckte man die vermeintlich verschollenen Akten – vergraben in den Archivkellern.
Die Irrenanstalt für 600 Patienten war wie ein Dorf konzipiert, mit zehn gelben Backsteinbauten, die um ein großes Verwaltungsgebäude gruppiert waren – umgeben von einer drei Meter hohen Mauer. Männer und Frauen waren getrennt untergebracht. Wer konnte, arbeitete in den Werkstätten oder half auf den angeschlossenen landwirtschaftlichen Höfen. Der Tageslohn: zehn Pfennig für Männer und fünf Pfennig für Frauen.
Von Anfang an hatte Dalldorf einen miesen Ruf. Mehr als tausend Kranke wurden in der Anstalt untergebracht – fast das Doppelte der geplanten Kapazität. Schon drei Jahre nach der Eröffnung warnten Zeitungen vor den „Irren von Dalldorf“, Ärzte verunglimpfte man als „sentimentale Humanisten“. Viele Pflegerinnen und Pfleger wohnten auf dem Anstaltsgelände und schliefen oft sogar in den Sälen der Patienten. Neben den Häusern für psychisch Kranke und geistig Behinderte gab es eine Erziehungsanstalt für „idiotische Kinder“, eine Forensik, in der psychisch kranke Straftäter unterkamen, und ein Abstinenzsanatorium für Trinker, Morphinisten und Kokainisten, wo der „Geist der Enthaltsamkeit“ gestärkt werden sollte.
Während des Ersten Weltkrieges wurde die Lage noch schlimmer. Die Lebensmittelknappheit traf die eh schon Schwächsten in der Gesellschaft und so auch die Kranken in Dalldorf: Viele verwahrlosten und verhungerten schließlich. Darüber konnte auch die Umbenennung der Anstalt Mitte der Zwanzigerjahre nicht hinwegtäuschen: Sie hieß nun „Wittenauer Heilstätten“, aus dem Dorf Dalldorf war der Berliner Ortsteil Wittenau geworden.
Was die Nazis unter Heilung verstanden, zeigte sich bereits 1933. Man entließ jüdische, sozialdemokratische und kommunistische Angestellte, um die Anstalt zu „säubern“. Nur ein Jahr nach der Machtübernahme begannen die Nazis, Menschen zwangsweise zu sterilisieren. Die Grundlage dafür bot das Gesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“, um die „arische Rasse“ von vermeintlich minderwertigem Erbgut zu „reinigen“. Bis zu 400.000 Männer und Frauen wurden durch einen operativen Eingriff oder durch Bestrahlung der Eierstöcke unfruchtbar gemacht: Menschen mit psychischen Krankheiten, Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen und Menschen, die wie Alkoholiker als „asozial“ oder „minderwertig“ galten.
Zwischen 1934 und 1938 reichte die Klinik knapp 2.000 Anträge auf Zwangssterilisation bei den sogenannten „Erbgesundheitsgerichten“ ein – die jüngste Patientin war gerade mal dreizehn Jahre alt. Leiter der Wittenauer Heilstätten war zu dieser Zeit Gustav Adolf Waetzoldt. In seinem Buch „Aufartung durch Ausmerzung“ setzte er sich nachdrücklich für die Zwangssterilisation von psychisch Kranken ein. Besonders jüdische Patienten stigmatisierte Waetzoldt. Über einen notierte er: „Der Kranke ist jüdischer Rasse, die bekanntlich mit manisch-depressivem Irresein besonders stark belastet ist …“
Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges gingen die Nazis von der Sterilisation zur Tötung über. Mit dem „Euthanasie“-Programm begann der systematische Massenmord an Tausenden „erbkranken“ Kindern, meist durch das Beruhigungsmittel Luminal, das eine Atemdepression auslöste. Viele Kinder wurden auch quälenden medizinischen Experimenten ausgesetzt, denen die Eltern pro forma zustimmen mussten. Beeinflusst von der nationalsozialistischen Propaganda, zeigten sich viele „recht einsichtig und verständig“.
Wenig später ermordeten die Nazis im Rahmen der „Aktion T4“ auch systematisch Erwachsene. Zynisch sprach man vom „Gnadentod“. Tatsächlich tötete das NS-Regime Hunderttausende kranke und behinderte Menschen – bis zum Sommer 1941 durch Vergasung, anschließend durch Medikamente, medizinische Versuche und Nahrungsentzug. Aussortiert wurden auch vermeintlich Schizophrene, Epileptiker, Langzeitpatienten, kriminelle „Geisteskranke“ oder Menschen, die nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren.
Rund 15.000 Patienten wurden in den Kriegsjahren eingewiesen. Jeder dritte von ihnen starb in der Anstalt, wobei die Sterberate bei jüdischen und ausländischen Patienten besonders hoch war – ein Indiz dafür, dass die Wittenauer Patienten im Rahmen der „Euthanasie“ getötet wurden. Von Januar 1940 bis August 1941 wurden über tausend Patienten in Sammeltransporten von Wittenau aus in Zwischenanstalten gebracht. Von dort aus ging es weiter in eine der sechs Vergasungsanstalten wie Brandenburg an der Havel. „Die nicht gearbeitet haben oder gemeckert haben, wurden mit den Transporten weggebracht“, erinnerte sich später ein Patient.
Ende April 1945 erreichte die Rote Armee die Wittenauer Heilstätten. Die Soldaten besetzten das Gelände und ließen die Patienten einfach frei – weil sie dachten, der Aufdruck „Pol.“ auf der Anstaltskleidung würde für politische Gefangene stehen. Jenes „Pol.“ bedeutete jedoch: von der Polizei eingewiesen. Mit den Worten „Hitler kaputt“ und „Krieg fertig“ wiesen die Rotarmisten den Patienten den Weg in die Freiheit, mit der viele nichts anzufangen wussten. Sie blieben einfach vor den Türen der Anstalt stehen.
Nach der Befreiung vom NS-Regime kam Karl Bonhoeffer als dirigierender Arzt nach Wittenau – doch schon im Dezember 1948 starb er an einem Schlaganfall. Ihm zu Ehren wurde die Anstalt 1957 umbenannt in Karl-Bonhoeffer-Heilstätten. Zehn Jahre später wurde aus den Heilstätten eine Nervenklinik. Weil die Patienten früher auf dem Feld und bei der Viehzucht geholfen hatten, hieß die Anstalt bald im Volksmund „Bonnies Ranch“.
Nahmen direkt nach Kriegsende das Elend, der Hunger und die Infektionskrankheiten zu, verbesserte sich die Lage ab den 1950ern erheblich: Ärzte konnten psychische Erkrankungen auch mit Medikamenten behandeln, die ersten Psychopharmaka kamen auf den Markt. Zusätzlich entwickelte sich die Psychotherapie. Anfang der Sechziger gab es neue Beruhigungsmittel, wodurch auch das Leben der Wittenauer Patienten freier wurde: Die Mauern um die Anstalt verschwanden ebenso wie die Gitter an den Fenstern.
Das neu gesetzte Ziel der Siebzigerjahre war es dann, die Psychiatrie zu reformieren und psychiatrische Großanstalten abzuschaffen. Eine vom Deutschen Bundestag eingesetzte Expertenkommission beklagte die katastrophalen und menschenunwürdigen Bedingungen in den Kliniken – und meinte damit auch Wittenau. Ein „krankes Krankenhaus“ sei das, schrieben damals die Zeitungen. Zu den prominentesten Patienten in Wittenau gehörte zu jener Zeit die junge Heroinabhängige Christiane F.: „Das war so ungefähr das Letzte, was ein Fixer machen konnte. Bonnies Ranch war der totale Horror für jeden Fixer. Es hieß immer: lieber vier Jahre Knast als vier Wochen Bonnies Ranch“, schrieb sie in ihrem 1978 veröffentlichten Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Tatsächlich sollen noch Anfang der Achtziger Patienten der Nervenklinik in Zwangsjacken gesteckt worden sein. Eine von ihnen musste in so einer Jacke, mit der die Arme eng am Körper fixiert wurden, acht Jahre ausharren – weil sie sich heißen Kaffee ins Gesicht gekippt hatte und deshalb als autoaggressiv galt.
Nach der Wiedervereinigung ging die Bonhoeffer-Nervenklinik mit dem Humboldt-Klinikum in der landeseigenen Klinikkette Vivantes auf, und man begann, psychiatrische Abteilungen und ambulante Dienste ins Humboldt-Klinikum zu integrieren. War die neue Freiheit für manche Patienten nun eine Chance, war sie für andere eine Bedrohung, wie die „taz“ Ende der Neunziger schrieb: „Draußen strahlt die Sonne, die Pappeln rauschen, auf der weiten Terrasse warten Plastikstühle. Aber die Bewohner von Station 19 sitzen lieber drinnen auf dem Gang. Da kommt die Welt nur ab und zu als Windzug herein.“ Die Bewohner von Station 19 zählten zu den letzten der Klinik.
Im Jahr 2006 wurde die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik – nach 126 Jahren Betrieb – endgültig für Patienten geschlossen. Nur eine Hochsicherheits-Psychiatrie für Straftäter ist auf dem Gelände verblieben. Doch die Geister der Vergangenheit lassen den Ort nicht los: Auch im Krankenhaus des Maßregelvollzugs bestimmen Überbelegung und Personalmangel den Alltag. Ärzte sprechen von einem Klima der Angst und von menschenunwürdigen Zuständen: überfüllte Zimmer, zu wenige Therapieangebote, was zu Frust und Aggressionen führt. Zwei Straftäter überwältigten schon mal zwei Angestellte – und flohen. Ein anderer stach mit einem Frühstücksmesser auf zwei Ärztinnen ein. 2015 wurde begonnen, einen Teil des Geländes zur Registrierung und Unterbringung von Geflüchteten zu nutzen. Noch heute nennen die Leute den Ort „Bonnies Ranch“.