Erschienen in DUMMY Magazin, Ausgabe 81: Verlangen, Collage oben: Eva Kienholz
Es war vier Uhr nachts, ich war betrunken und verdammt gut drauf. Eben noch tanzte ich mit Freunden zu Indie-Musik in einem kleinen Berliner Club, jetzt verließ ich den U-Bahnhof Hallesches Tor, um nach Hause zu gehen. In meinen Ohren steckten kleine Kopfhörer, die Musik der Nacht, gespeichert auf einem MP3-Player. Ich hörte die Shins. New slang when you notice the stripes. The dirt in your fries. Hope it’s right when you die, old and bony. Es war Frühling 2012, ich war 24 Jahre alt, machte meinen Master in Literatur und wohnte in einer WG mit zwei Typen am Tempelhofer Ufer. Eine Gegend, die nach Anbruch der Dunkelheit schlecht beleuchtet war. Auf der letzten Etappe meines Nachhausewegs lag ein Club. Viele Männer standen davor, tranken, rauchten – ich lief an ihnen vorbei und überlegte, ob ich mir noch irgendeine Doku zum Einschlafen anschauen sollte. Ich war müde, klar, aber auch aufgekratzt. Und eben betrunken.
Als ich gerade die Haustür öffnen wollte, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehte mich um. Ein Mann, vielleicht dreißig, war mir scheinbar vom nahe gelegenen Club gefolgt und fragte mich jetzt nach einer Zigarette. Er trug einen hellen Trainingsanzug, die Kapuze hatte er über den Kopf gezogen. Was soll das?, dachte ich – und verneinte seine Frage, obwohl ich Tabak dabeihatte. Ich wollte ihn schnell wieder loswerden, drehte mich weg und öffnete die Tür. Plötzlich spürte ich seine Hände auf meinem Rücken, die mich in den Hausflur schoben. Es ging alles sehr schnell und kam so unerwartet und plötzlich, dass ich keine Zeit hatte, mich zur Wehr zu setzen. Und dann stand ich – wie in einem schlechten Film – mit dem fremden Mann im Hausflur, mit dem Rücken zur Wand. Während er mich an die Wand drückte, zog er ein Messer hervor und flüsterte: „Wenn du schreist, schlitze ich dir die Kehle auf.“ Mit einem Mal war ich nüchtern, mein Verstand klar und fokussiert. Ich wusste: Jetzt geht es um Leben und Tod.
„Was willst du?“, fragte ich, nachdem ich die Kopfhörer aus meinen Ohren genommen hatte. „Noch ist nichts passiert. Also geh wieder auf die Party und quatsch da eine Frau an. Du siehst doch ganz gut aus“. Ich weiß nicht mehr, ob ich all das mit lauter, leiser, mit fester oder zittriger Stimme sagte, aber ich weiß noch, dass ich einfach funktionierte. Als wäre mein Ich durch ein Roboter-Ich ausgetauscht worden. Irgendwie schaffte ich es, ganz ruhig zu bleiben. Ihn nicht als Bestie zu betrachten, sondern als normalen Menschen. Der Mann schien völlig perplex und steckte sein Messer zurück in die Jackentasche. Sicher dachte er, dass ich beim Anblick des Messers in Panik gerate. Oder doch anfange zu schreien. Mit einem Smalltalk hatte er nicht gerechnet. Und doch drückte er mich immer noch gegen die Wand. „Wenn du wirklich eine Zigarette willst, dann kann ich dir eine drehen. Ich hab Tabak dabei“, versuchte ich einzulenken. Aber ich ahnte, dass es ihm nicht um eine Zigarette ging.
Meine WG schien mir in diesem Moment unerreichbar. Dabei hätte ich nur durch den Hausflur gehen, den Innenhof überqueren und zwei Stockwerke hochlaufen müssen, um in die Wohnung zu gelangen. Ein Weg, der keine Minute gedauert hätte, doch plötzlich war mir jegliches Gefühl für Raum und Zeit abhandengekommen. Gerade dachte ich noch darüber nach, eine Doku vor dem Einschlafen anzuschauen – jetzt dachte ich darüber nach, wie es wäre, hier und jetzt zu sterben. Wie meine Familie, meine Freunde reagieren würden, wenn sie erfuhren, dass ich von einem wildfremden Mann abgestochen wurde. In meinem Hausflur, mitten in Berlin. Ich hatte doch noch so viel vor. Mein Leben fing doch jetzt erst so richtig an – und dann sollte es schon wieder vorbei sein? Einfach so? Ich dachte an die Shins, die eben noch sangen: Hope it’s right when you die, old and bony. Das kann doch alles nicht wahr sein. Verdammt: Warum ist das wahr?
Ich sammelte mich und wollte gerade mein Angebot mit der Zigarette wiederholen, als der Mann seine Faust ballte und sie gegen meine Wange drückte. „Wenn du noch irgendwas sagst, breche ich dir den Kiefer.“ Beim Blick auf den Boden schaute ich an mir herunter, sah meine abgewetzte Lederjacke und einen kurzen Rock, den ich eigentlich nie trug. Dazu schwarze Strumpfhosen und Stiefel. Sollte ich versuchen, ihm in die Eier zu treten? Aber was, wenn ich nicht richtig treffen würde? Dann würde sein Messer vielleicht gleich in meinem Herz oder Hals stecken. Lieber also nichts tun, abwarten. Nach einer gefühlten Ewigkeit verlangte er, dass ich ihn küssen solle. „Aber so richtig, mit Zunge.“ Ich dachte an sein Messer, ich dachte an seine Faust, und ich dachte ans Sterben. Also küsste ich ihn. Für mein Leben. Obwohl der Mann keinen Mundgeruch hatte und kaum älter war als ich, war es der ekelhafteste Kuss, den ich mir vorstellen konnte. Und es war das Schlimmste, was ich je gemacht hatte. Ich schwor mir: Bis hierhin und keinen Schritt weiter.
Das, wovor ich mich fast noch mehr fürchtete als vor dem Messer oder der Faust, passierte nach dem Kuss. Er zog seine Hose und Boxershorts herunter. Um mich vor ihm zu schützen, ging ich in die Hocke. Mit meinen Armen umfasste ich meinen Körper, dem er auf keinen Fall noch näher kommen sollte. „Jetzt hör doch auf mit dem Scheiß! Wenn du einfach gehst, ist nichts passiert. Du hast doch keinen Bock, in den Knast zu wandern?“
Ich weiß nicht mehr genau, was ich noch alles sagte, aber irgendwann zog er die Hose wieder hoch, ohne mich weiter bedrängt zu haben, und verlangte mein Handy. Aber auch das wollte ich ihm nicht geben, weil mir bewusst war: Falls ich das hier überleben sollte, muss ich mit jemandem reden, der mir nahesteht. Zum Glück hatte ich nur ein olles Handy, mit dem man nicht mehr als telefonieren oder SMS schreiben konnte. Als er es sah, verlor er das Interesse an meinem Handy und forderte sichtlich nervös: „Dann gib mir dein ganzes Geld.“ Ich holte mein Portemonnaie aus der Tasche und leerte die wenigen Überbleibsel meiner Partynacht in seine Handfläche: ein paar Centmünzen und eine Pfandmarke. Kurz befürchtete ich, dass er sich verhöhnt fühlen könnte und wieder sein Messer zücken würde, doch dann sagte er: „Okay, ich lass dich jetzt gehen. Aber wenn du zur Polizei gehst, bist du tot.“
Sofort rannte ich los, bevor er es sich vielleicht doch noch mal anders überlegen konnte. Als ich in meinem WG-Zimmer angekommen war und die Tür hinter mir schloss, begann mein ganzer Körper zu zittern. Der Robotermodus war ausgestellt. Ich versuchte, meinen damaligen Freund zu erreichen. Aber der schlief schon und hörte meinen Anruf nicht. Dann wählte ich die Nummer meiner Mutter. Ich wusste, ihr Handy war immer laut gestellt, auch nachts. Sie ging sofort dran. Meine Anspannung der letzten halben Stunde verwandelte sich in endlose Tränen – während wir telefonierten, bis es draußen hell wurde.
Ich weiß noch, wie schwer es mir fiel, am nächsten Tag die Wohnung zu verlassen. Ich hatte Angst, dass mir der Mann vor der Haustür auflauern würde. Dass er sich vielleicht doch noch dafür rächen wollte, von mir mit ein paar Centstücken abgespeist worden zu sein. Aber draußen schien die Sonne, keine einzige Wolke war am Himmel. Ich musste raus, um irgendwie wieder klarzukommen. Vor meiner Tür wartete niemand – und auch vor dem Club standen keine Männer mehr. In der U-Bahn checkte ich an diesem Tag und in den nächsten Wochen immer erst die Gesichter der Mitfahrenden, bevor ich mich sicher fühlte.
Ich entschied mich gegen eine Anzeige. Ich hatte Angst, dass das, was mir passiert war, nicht ausreichen würde, ihn hinter Gitter zu bringen. Und dann müsste ich vielleicht die Stadt verlassen, die ich eigentlich nie mehr verlassen wollte.
Eine Woche später auf einer Party erzählte ich einer Freundin, was mir passiert war. Plötzlich mischte sich ein Typ in das Gespräch ein. Er sagte, er sei Polizist und müsse das, was er eben mitbekommen habe, zur Anzeige bringen, sonst würde er sich strafbar machen. Obwohl ich seine Einmischung als unverschämt empfand, ging ich am nächsten Tag zur Polizei. Ich wollte ihm nicht den Vortritt lassen.
Ich weiß noch, wie ich bei der Kripo vor einem Computer saß und mich durch gefühlt tausend Fotos von Männern klicken musste, die zu meiner recht vagen Personenbeschreibung passten. Mein Gehirn hatte sich in dieser Gefahrensituation nicht wirklich das Äußere des Mannes eingeprägt. Das wurde mir klar, als ich die Polizeikartei durchging. Würde ich ihn überhaupt erkennen? Und könnte ich anschließend vor Gericht aussagen, dass er es auch wirklich war?
Bei keinem der Fotos war ich mir sicher. Und auch an den Klamotten, die ich in dieser Nacht trug, konnten keine Spuren sichergestellt werden – ich hatte sie weggeschmissen, nachdem ich mich gegen eine Anzeige entschieden hatte.
Drei Monate später – ich saß gerade in der Bibliothek, gedanklich immer mit dieser Nacht statt mit meiner Hausarbeit beschäftigt – bekam ich einen Anruf von der Polizei. Ich solle bitte noch einmal vorbeikommen. In meinem Fall hätte sich eventuell etwas getan. Wieder zeigte mir eine Polizistin Fotos von Männern. Aber dieses Mal waren es nur noch drei. Lange studierte ich die vor mir liegenden Gesichter – und blieb an einem hängen. „Das könnte er gewesen sein.“ Die Polizistin schaute mich an und sagte: „Wenn es dieser Mann wirklich war, dann können Sie beruhigt sein. Die anderen Überfälle, die anschließend in der Nähe Ihrer Wohnung stattfanden, haben ausgereicht, um ihn jetzt erst mal lange Zeit ins Gefängnis zu bringen.“ Was er denn noch getan habe, fragte ich. Doch die Polizistin wollte es mir nicht sagen.
Als ich die Polizeiwache verließ, spürte ich eine Riesenerleichterung, weil der Mann gefasst worden war, gleichzeitig war ich extrem wütend. Denn er musste den Frauen, denen er nach mir aufgelauert hatte, wohl noch Schlimmeres angetan haben als mir. Und vielleicht hätten seine weiteren Gewalttaten sogar verhindert werden können, wenn ich direkt zur Polizei gegangen wäre.