Wie sag ich’s dem radikalisierten Onkel?

Wenn Jana aus Kassel sich mit Sophie Scholl vergleicht, hagelt es Empörung und Spott. Viele erleben solche Geschichtsvergessenheit auch in der Familie oder im Beruf. Zielführender wäre eine ganz andere Reaktion.

Erschienen am 01.12.2020 bei Spiegel Online, Foto oben: Eva Kienholz

Demonstranten gegen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung tragen Shirts mit gelbem Judenstern, um gegen eine angebliche Impfpflicht zu protestieren. »Jana aus Kassel« halluziniert bei einer »Querdenken«-Kundgebung eine Verbundenheit mit Sophie Scholl. Eine Elfjährige auf der Bühne vergleicht sich mit Anne Frank, weil sie ihren Geburtstag leise feiern musste – aus Furcht, von Nachbarn »verpetzt« zu werden. Bei einer Familienfeier bezeichnet der sonst so umgängliche Onkel das Infektionsschutzgesetz als »Ermächtigungsgesetz«, ohne dass ihm das Hähnchen oder das Wort im Halse stecken bleibt.

Absurde Vergleiche, vor allem zur NS-Zeit, haben Konjunktur. Sie sind motiviert durch lückenhaftes Wissen, Ignoranz oder böse Absicht. Man erlebt sie bei Demonstrationen, im Internet und im Parlament, oft auch im Beruf, ebenso privat in der Familie oder unter Freunden und Bekannten.

Lange galt Geschichtsklitterung in der bundesrepublikanischen Nachkriegsrealität als Toberaum rechtsradikaler Wirrköpfe. Mit dem Einzug der AfD in die Parlamente bekamen die Rechtsausleger ein öffentlichkeitswirksameres Podium. Ihre gezielten Provokationen, etwa Björn Höckes Gerede von einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« oder Alexanders Gaulands »Vogelschiss«-Verharmlosung der Nazi-Diktatur, haben Spuren hinterlassen.

Die Frage ist: Wie schaffen wir es, die Geschichte zurechtzurücken, um wieder nach vorn zu denken?

Helfen Humor oder Häme wirklich?

Pia Lamberty forscht seit vielen Jahren zu Verschwörungsideologien. »Solche Opferinszenierungen sind in diesem Milieu nichts Neues«, sagt die Sozialpsychologin von der Uni Mainz . »Apolitisch anmutende Akteurinnen wie Jana aus Kassel werden meist als Einzelfälle abgetan, mit denen sich nicht systematisch auseinandergesetzt wird. Das muss sich ändern.« Zumal Leute, die von sich behaupteten, unpolitisch zu sein, sich oft genug nicht von Rechtsradikalen distanzierten.

Lamberty warnt nicht allein vor einer pauschalen Pathologisierung von Rechtsextremisten. Sie kritisiert auch jene, die mit Humor oder Häme auf Verschwörungsgläubige reagieren. Fundamental wichtig sei eine intensive Auseinandersetzung mit rechter Ideologie an sich. Es sei aber auch Aufgabe der Medien, sich stärker zu positionieren und falsche Behauptungen als solche zu kennzeichnen: »Wenn sich Verbreiter von Verschwörungserzählungen immer wieder in den Medien präsentieren dürfen, werden die von ihnen vertretenen Meinungen als dem wissenschaftlichen Diskurs ebenbürtig präsentiert.«

Als die 22-jährige Jana aus Kassel bei den Querdenkern in Hannover auftrat, konnte sie kaum wissen, wie viel Wut und Spott über sie hereinbrechen würde. Gefahr indes bestand für sie keine. Sophie Scholl hingegen erlebte ihren 22. Geburtstag nicht mehr: Knapp drei Monate vorher wurde sie wegen ihres Engagements in der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« von der Gestapo verhaftet, verhört, verurteilt und am 22. Februar 1943 per Fallbeil enthauptet.

Die 11-Jährige von der Corona-Demo in Karlsruhe feierte ihren Geburtstag nur etwas leiser als sonst. Niemand denunzierte sie. Sie muss nicht jahrelang in einem Hinterhaus-Versteck leben. Erst recht wird sie nicht in ein Konzentrationslager verschleppt werden und bis aufs Skelett abmagern, kein Fleckfieber bekommen, nicht gequält sterben wie Anne Frank 1945 im KZ Bergen-Belsen.

Geschichtsklitterung ist rechtsradikales Programm

Ganz offensichtlich leben wir in ganz anderen Zeiten. Trotzdem imaginieren sich viele »Querdenker« in Widerstands- und Opfer-Narrative hinein. Von ihrem Standpunkt aus scheint vieles gerechtfertigt, etwa Medien als »gleichgeschaltet« zu bezeichnen oder Gewalt als legitimes Mittel zu betrachten.

Zum Trugbild, in einer Diktatur zu leben, kommt erschwerend hinzu, dass sich viele Querdenker als Teil einer Bewegung gegen Schurken wähnen, die angeblich den ganzen Planeten kontrollieren, Menschen »chippen« oder gleich umbringen wollen. Der Impuls, gemeinsam mit anderen gegen eine erfühlte weltweite Verschwörung  vorzugehen, wirkt dann umso mächtiger.

Für vieles von dem, was gerade Empörung auslöst, gibt es in naher Vergangenheit Wegbereiter:

  • So warb 2017 ein bayerischer AfD-Kreisverband mit dem Slogan »Sophie Scholl würde AfD wählen«.
  • Im September 2018 veranstalteten AfD und Pegida nach dem tödlichen Messerangriff auf den 35-jährigen Daniel H. einen »Trauermarsch« durch Chemnitz – und riefen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Vorfeld auf, »als Zeichen der Trauer« eine weiße Rose mitzunehmen. Eine klare Provokation; Höcke, Kalbitz und andere Gleichgesinnte liefen Schulter an Schulter mit Hooligans und Neonazis.
  • Im Monat darauf verteilte die »Junge Alternative« im Lichthof der Münchner Universität Flugblätter mit Zitaten der »Weißen Rose« – genau dort, wo die Gruppe um die Geschwister Scholl am 18. Februar 1943 aufgeflogen war.

Nikolas Lelle von der Amadeu Antonio Stiftung, die sich mit Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus befasst, betont einen weiteren Aspekt: »Wenn ein bekannter Rechtsextremist wie Sven Liebich auf einer Corona-Demo mit einem gelben Judenstern herumläuft, dann macht er das bewusst. Selbst wenn eine Jana aus Kassel behauptet, sie habe nicht gewusst, wie verhöhnend ihr Vergleich mit Sophie Scholl ist: Die Wirkung ist dieselbe.« Gerade bei »Querdenken« sei es eine Strategie, die Wirkung der eigenen Worte herunterzuspielen.

Um gegen Geschichtsverfälschung vorzugehen, hat sich in diesem Jahr die Initiative »Historiker*innen für ein Weltoffenes Thüringen«  gebildet. Sie wollen Stellung beziehen in einer Zeit, in der »menschenverachtende Verbrechen« relativiert werden, »ein angeblich historisch gewachsenes, homogenes ›deutsches Volk‹« konstruiert wird, um erneut »nationalistisch-exkludierende Einstellungen gegen die vermeintlich Anderen zu rechtfertigen« – so steht es in ihrer Resolution.

Sebastian Dorsch ist einer der »HiWelt«-Initiatoren. Auch der Erfurter Historiker hat sich den Auftritt von Jana aus Kassel angeschaut – und warnt: »Wir müssen aufhören, uns über solche Leute lustig zu machen. Das geht nicht nur am Kern der Problematik vorbei, sondern stärkt auch die Opfer-Narrative der Querdenker.«

Statt auf Spott setzt Dorsch auf eine wissensbasierte Auseinandersetzung, um aufzuzeigen, dass solche Vergleiche anmaßend und unhaltbar sind . »Welche Konsequenzen hatte das Flyer-Verteilen für Sophie Scholl? Sie wurde zum Tode verurteilt. ›Jana aus Kassel‹ hingegen wurde bei ihrer Rede von der Polizei geschützt.« Mit einer solchen historischen Konfrontation hofft Dorsch, dass eine gewisse Reflexion einsetzt.

Dass ihre Ahnungslosigkeit wohl kaum Kalkül ist, verdeutlicht Janas Reaktion auf einen jungen Mann, der ihr zornig eine Ordnerweste vor die Füße wirft: Sie dreht sich weg vom Publikum, schluchzt, schmeißt Mikrofon und Zettel auf den Boden und stürmt von der Bühne. Dass ihr der Vorfall zusetzt, erkennt man, als sie etwas später, »mit ganz viel Liebe«, doch noch durch ihre vorbereitete Rede holpert (ihre neunte schon auf Demos, sagt sie): »Egal… Fangen wir noch mal an. Ich fühle mich eben wirklich wie Sophie Scholl.«

Zurück in die Zukunft

»Man muss die Menschen wieder mehr für Sprache sensibilisieren, unabhängig von der politischen Couleur«, findet Sebastian Dorsch. Bevor große Begriffe in den Raum geworfen werden, müsse man sich stets fragen, wie diese entstanden sind, was sie ursprünglich bedeuteten und was sie hervorrufen können. Mit der Initiative möchten Dorsch und seine Mitstreitenden mehr Fachwissen vermitteln und sich mit Bildungseinrichtungen vernetzen. Zugleich wollen sie Anlaufstelle sein für alle, die Argumentationshilfen brauchen oder einfach nur Fragen zu historischen Themen haben.

Dass es Menschen oft an Kompetenzen fehlt, um mit radikalisierten Menschen aus ihrem Familien-, Freundes- oder Kollegenkreis umzugehen, ist gerade vor den kommenden Weihnachtsfeiertagen ein Problem. Dabei seien Verwandte eigentlich leichter zu erreichen als etwa unbekannte Demonstrierende, sagt Nikolas Lelle: »Am ehesten kommt man an Leute heran, die einem nahestehen. Es ist dann zwar auch wichtig, die Person mit ihren Ängsten ernst zu nehmen, aber gleichzeitig klarzumachen, welche Gefahr in solchen Äußerungen liegt.«

Verschwörungen, Vereinnahmungen, Geschichtsfälschungen – Sozialpsychologin Pia Lamberty befürchtet, dass dies die Themen des nächsten Jahrzehnts werden. »Auch wenn das Coronavirus schon bald keine große Rolle mehr spielt, gibt es ja noch genügend andere Themen, die zu Verschwörungserzählungen einladen: ökonomische Unsicherheiten, der Klimawandel.« Eine kritische Auseinandersetzung sei daher extrem wichtig. Und produktiver als spöttisches Duplizieren von Falschaussagen. »Wer die Sprache der Hetzer und Verschwörungsideologen übernimmt, der stärkt ihren Einfluss auf unsere Gesellschaft«, resümiert Lamberty als Co-Autorin im Buch »Fake Facts – wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen« .

Natürlich weiß niemand, ob der Ansatz funktionieren kann, durch kritische Debatten mit den Geschichtsvergessenen die Verhältnisse geradezurücken. Hass und Häme jedoch hält Sebastian Dorsch für grundfalsch. Die massive Entrüstung in den sozialen Medien habe nur dazu geführt, dass für Mitte Dezember ein Schweigemarsch für Jana geplant sei, sagt er: »Damit wird sie noch mehr zum Opfer stilisiert und der Zusammenhalt in den eigenen Reihen weiter gefestigt.«

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