Wegweiser zum Ungehorsam

Die ersten Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ werden wegen Straßenblockaden verurteilt. Ein Jahr nach Gründung verzeichnet die Gruppe enormen Zulauf – und kündigt ihre bisher größte Aktion an.

Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 40/2022, Foto oben: Eva Kienholz

„Gerade klingelte es und Olaf Scholz war dran.“ Diese Zeile twitterte Henning Jeschke am 25. September 2021, als der Politikstudent nach 27 Tagen im Hungerstreik und sieben Stunden ohne Wasser einen Anruf vom damaligen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz bekam. Der SPD-Mann versprach Jeschke nach der Bundestagswahl ein öffentliches Gespräch über die Klimakrise, wenn der den öffentlichen Hungerstreik beenden würde.

Ein Jahr später steht Henning Jeschke vor Gericht. Nicht wegen des Hungerstreiks, den er nach dem Anruf von Olaf Scholz beendete, nicht wegen des Gesprächs vor laufenden Kameras, das nichts bewirkte. Seit knapp einem Jahr versucht Jeschke zusammen mit Gleichgesinnten den klimapolitischen Kurs zu revolutionieren – durch zivilen Ungehorsam.

Als „Aufstand der Letzten Generation“ haben sie ihre Forderungen an die Außenwand des Kanzleramts geschrieben, einen leeren Kinderwagen als Zeichen einer brennenden Zukunft angezündet, sich als Olaf Scholz verkleidet und mit Fake-Öl beschmiert, um diesen als falschen Klimakanzler zu entlarven, Pipelines abgedreht, viel befahrene Straßen blockiert, ihre Hände am Asphalt festgeklebt. Immer mit der Absicht, die Politik zu mehr Klimaschutz zu treiben.

Wegen versuchter Nötigung verantwortet sich Jeschke nun vor dem Amtsgericht Tiergarten. Im Juni dieses Jahres blockierte er mit anderen Aktivisten die Berliner Seestraße, klebte seine linke Hand auf den Asphalt, der Berufsverkehr stockte. In einem engen Raum, der mehr an ein Klassenzimmer erinnert, verteidigt sich Jeschke selbst. „Was gerade zum 24. Juni geschildert wurde, stimmt“, sagt er mit fester Überzeugung. Vor ihm liegt ein dicker Aktenordner. „Wir waren dort, haben uns versammelt, ich habe mich angeklebt, wir haben den Verkehr dort mit unserer Versammlung gegen den Klimanotstand unterbrechen wollen.“

Jeschkes Eingangsrede ist mehr als ein Eingeständnis. Sie ist eine Erklärung, warum für ihn ziviler Ungehorsam notwendig ist. „Entweder schaffen wir es, die Kipppunkte, die uns in eine Heißzeit stoßen, aufzuhalten, oder nicht. Es gibt keinen Mittelweg, es gibt nur ein Ja oder ein Nein. Deshalb saß ich am 24. Juni 2022 in Berlin auf der Straße und deshalb werde ich auch weiter kein Zuschauer sein, wenn wir in den Zusammenbruch gesteuert werden.“

Dieser Prozess in dem kleinen Raum, in dem etwa zehn Aktivistinnen und Aktivisten der „Letzten Generation“ Jeschke beistehen wollen, ist aus mehreren Gründen interessant. Die Kämpfer fürs Klima wollen das Gericht als Bühne nutzen, sich in flammenden Reden selbst verteidigen. Außerdem betrachten sie diesen Prozess als Wegweiser für künftige Gerichtsentscheide dieser Art. In seinem Plädoyer wendet sich Jeschke direkt an die Richterin: „Entscheiden Sie, auf welcher Seite der Geschichte Sie stehen.“

Tatsächlich beschloss kürzlich ein Schweizer Richter, demonstrierende Klimaaktivisten konsequent freizusprechen. Bei seiner Urteilsverkündung begründete er seine Entscheidung so: Eine für eine halbe Stunde blockierte Brücke müsste man für ein derart wichtiges Anliegen hinnehmen. Nur bei Gewalt müsste eingegriffen werden. Ihm sei bewusst, dass er mit einer solchen Auffassung noch alleine dastehe. Die Staatsanwaltschaft habe schon gegen sämtliche seiner Freisprüche Berufung eingelegt.

Die Richterin am Amtsgericht Tiergarten entscheidet sich anders. Zwar zeigt sie durchaus Verständnis für die Beweggründe der Klimaaktivisten, aber weniger für das gewählte Protestmittel der Straßenblockade. Sie lobt Jeschke für seine rhetorischen Fähigkeiten, „Sie können sehr gut reden“, sagt aber am Ende, dass eine „moralische Rechtfertigung“ nicht in den Gerichtssaal gehöre. Sie verurteilt Jeschke wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen à zehn Euro. Kein Freispruch, aber doch ein sehr mildes Urteil.

Jeschke, der sich nach der Urteilsverkündung enttäuscht zeigt, erzählt vor dem Gerichtsgebäude: „Ich finde das Urteil wenig mutig, zumal die Richterin selbst gesagt hat, es existiere ein Notstand.“ Carla Hinrichs, Pressesprecherin der „Letzten Generation“, pflichtet ihm bei: „Auch das Gericht muss jetzt im Hinblick des Klimanotstands so wie wir alle Grenzen übertreten. Es braucht einen juristischen Anstoß, der dann eine Welle von Freisprüchen auslöst.“ Auch wenn ein Freispruch wieder aufgehoben werde, wäre dies ein erster Schritt, dem andere Gerichte folgen würden, findet Hinrichs, die für den Klimaaktivismus ihr Jurastudium kurz vor dem ersten Staatsexamen abgebrochen hat.

Angenommen, das Festkleben an Straßen wäre fortan straffrei, würde Gleiches dann auch für das Festkleben an berühmten Gemälden gelten? Ende August klebten sich Aktivisten vom „Aufstand der Letzten Generation“ an die historischen Rahmen verschiedener Gemälde, etwa Ruhe auf der Flucht nach Ägypten von Lucas Cranach. Eine der beiden Aktivistinnen, die sich an Cranach in der Berliner Gemäldegalerie klebte, war Lina Eichler. Sie ist auch zum Prozess gekommen. Angesprochen auf diese Aktion sagt sie: „Es ging uns nicht um das Kunstwerk selbst, sondern um die Aufmerksamkeit, die das Festkleben an dem Kunstwerk erzeugt. Zumal es auf einem toten Planeten auch keine Kunst mehr gibt.“

Als Stimmungsbarometer taugt gegenwärtig eine Spendenkampagne der „Letzten Generation“. Auf der Crowdfunding-Plattform „GoFundMe“ sammeln die Aktivisten Spenden, um ihre Strafen zu bezahlen. „Widerstand ist teuer“, meint Hinrichs vor dem Gerichtsgebäude dazu. 241 Euro kostet meist das Ablösen angeklebter Hände vom Asphalt. Da 270 solcher Gebührenbescheide offen sind, wollen sie 65.070 Euro einsammeln. Knapp 15.000 Euro wurden für diese Kampagne bereits gespendet.

Ein Jahr gibt es schon den „Aufstand der Letzten Generation“. Es ging vom Hungerstreik über Straßenblockaden und Aktionen im Regierungsviertel Berlins oder im Bankenviertel Frankfurts bis auf die Anklagebank. Auch in anderen Ländern gründeten sich inzwischen „Letzte Generationen“, die eine strengere Klimapolitik vorantreiben wollen. „Ich habe mich gerade vor Gericht daran zurückerinnert, wie wir noch vor einem Jahr mit ein paar wenigen Menschen im Hungerstreik-Camp saßen“, erzählt Carla Hinrichs. „Und jetzt sind wir Hunderte Menschen, die gerade neue Aktionen organisieren oder uns vor Gericht unterstützen.“ Kurz ist es still, dann fügt sie hinzu: „Wir sind eine richtig große Gruppe geworden, die nicht nur sagt, wir gehen mal demonstrieren, sondern die sagt: Wir befinden uns im Widerstand. Und dafür würden wir auch ins Gefängnis gehen. Das ist eine unfassbare Entwicklung.“

Für den Oktober plant der „Aufstand der Letzten Generation“ seine größte Aktionsphase. Nach Schätzung von Henning Jeschke werden sie mit 400 bis 500 Leuten zurück auf die Straßen kommen. Außer natürlich, ergänzt Jeschke, die Bundesregierung werde sich bereit erklären, den ersten Schritt zu machen: ein Tempolimit 100 auf der Autobahn und ein Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr.