Bis zum ersten Herzschlag

Das „Herzschlag-Gesetz“ macht es Frauen in Texas beinahe unmöglich, eine Schwangerschaft zu beenden. Manchen ist das Gesetz noch nicht streng genug.

Erschienen auf fluter.de, 24.11.2021, Foto oben: Eva Kienholz

Nur eine Meile von Texas entfernt hält ein bronzefarbenes Auto vor der „Women’s Reproductive Clinic“ in Santa Teresa, einer Abtreibungsklinik im Bundesstaat New Mexico. Als ein junges Paar aus dem Auto mit texanischem Nummernschild steigt, läuft eine Frau auf die beiden zu. Mit einem großen Pappschild wirbt sie für kostenlose Schwangerschaftstests und Ultraschalluntersuchungen. Sie reicht dem Paar einen Flyer. Anschließend lässt sich das Paar in der Klinik beraten. 

Seit September gilt in Texas, dem nach Alaska flächenmäßig größten Bundesstaat der USA, das sogenannte „Herzschlag-Gesetz“. Es verbietet Schwangerschaftsabbrüche, sobald ein Herzschlag des Fötus festgestellt werden kann. Das ist um die sechste Schwangerschaftswoche herum möglich. Viele Frauen wissen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht einmal, dass sie schwanger sind. Auch bei Vergewaltigung und Inzest macht das neue Gesetz keine Ausnahmen.

Der Kampf um die Abtreibung spaltet die USA seit jeher. Das neue texanische Gesetz wurde bereits durch einen Eilantrag der Regierung von US-Präsident Joe Biden gekippt – und dann von einem texanischen Berufungsgericht wieder in Kraft gesetzt. Nun zieht die US-Regierung vor den Obersten Gerichtshof der USA, um das Gesetz zu blockieren. Dieses Hin und Her führt zu großer Verunsicherung, und auch dazu, dass viele Texanerinnen Hilfe in den Nachbarstaaten suchen.

Vicki Cowart von der Organisation „Planned Parenthood of the Rocky Mountains“, die Frauen zum Thema Abtreibung berät und selbst Abtreibungskliniken in New Mexico und Colorado betreibt, sprach gegenüber dem Nachrichtendienst „9News“ von einer rasanten Zunahme von Patientinnen aus Texas. In einer Einrichtung hätte diese Zunahme im September, als das Gesetz in Kraft trat, 520 Prozent im Vergleich zum Vormonat betragen. Um alle Patientinnen versorgen und beraten zu können, würden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Überstunden schieben.

An dem Tag, als das junge Paar vor die Abtreibungsklinik in Santa Teresa fährt, steht auch der 60-jährige Francesco auf einem Grünstreifen vor der Klinik. Weiter darf er sich gesetzlich nicht nähern. Er trägt einen blauen Sportanzug, um seinen Hals eine große Kreuzkette. In seinen Händen hält er sein, wie er sagt, Meditationsbuch. Es sind Auszüge aus der Bibel. Francesco engagiert sich bei „40 Days for Life“, laut eigener Website die weltgrößte Graswurzelbewegung für das Ende von Abtreibungen. Fragt man ihn, was er von Schwangerschaftsabbrüchen hält, sagt er: „In meinen Augen ist Abtreibung Mord.“ Dann fängt er an, über Gott und das von ihm geschenkte Leben zu sprechen. 

Wenn Patientinnen aus der Klinik an ihm vorbeilaufen, spricht er sie nicht aktiv an. Es gehe ihm darum, „Präsenz zu zeigen“, erklärt Francesco. Das mache er jeden Montag, weil er an diesem Tag nicht in seinem normalen Job als Automechaniker arbeiten müsse. Ursprünglich stammt er aus Mexiko, das für eine restriktive Abtreibungspolitik bekannt ist. Doch im September entschied der Oberste Gerichtshof in Mexiko, dass Schwangerschaftsabbrüche kein Verbrechen mehr sind. Francesco schüttelt energisch seinen Kopf. „Ich verstehe einfach nicht, wie jemand Abtreibung befürworten kann.“

Bis zum Abend wird an diesem Tag auch Valentine vor der Klinik in Santa Teresa stehen. Sie trägt eine schwarze Hose, ein türkisfarbenes Poloshirt, lächelt breit. Sie war es, die dem Paar mit dem texanischen Nummernschild einen Flyer in die Hand gedrückt hat. Sie ist 18 Jahre alt und geht aufs College. Später möchte sie Medizin studieren. Heute jobbt sie für die Non-Profit-Organisation „Her Care Connection“. Valentine sagt über sich und die Organisation, dass sie weder für noch gegen Abtreibungen sind. „Wir schreiben Frauen nicht vor, was sie tun sollen“, sagt sie. Stattdessen würden sie kostenfreie medizinische Beratungen anbieten. Im Netz findet man „Her Care Connection“ auf der Seite von „Southwest Coalition for Life“, einer Vereinigung, die sich gegen Abtreibung einsetzt.

Zwei Mitarbeiterinnen der Abtreibungsklinik in dem kleinen, unscheinbaren Städtchen Santa Teresa erklären an diesem Tag, dass überwiegend Frauen aus Texas zu ihnen kommen würden. Ein Schwangerschaftsabbruch würde bei ihnen 700 Dollar kosten – eine Summe, die für weniger Vermögende nicht leicht zu stemmen ist. 

Für Joe Pojman ist das Herzschlag-Gesetz ein Etappensieg: „Jedes gerettete Leben ist für uns ein Erfolg.“ Pojman, Chef des Verbandes „Texas Alliance for Life“, empfängt in seinem Büro in Austin. Er tritt staatsmännisch auf, trägt einen dunklen Anzug mit goldenen Knöpfen. Und führt durch einen langen Flur, in dem Fotos von glücklichen Müttern hängen, in einen Konferenzraum samt US-Flagge und einem Schaukasten, der Nachbildungen verschieden großer Föten aus Lehm zeigt.

Er und seine Organisation kämpfen für ein Gesetz, das Abtreibungen komplett verbietet, also auch vor dem ersten Herzschlag. „Als einzige Ausnahme bliebe“, sagt er, „wenn das Leben der Mutter akut in Gefahr wäre.“ Diese Einschränkung würde dann unabhängig vom Zeitpunkt gelten. Selbst Inzest und Vergewaltigungen seien für ihn keine Ausnahmegründe: „Jede Gewalttat gegen eine Frau ist furchtbar. Aber wir können nicht das Kind für so eine Tat bestrafen.“ Pojman befürwortet auch, dass das Herzschlag-Gesetz Bürgerinnen und Bürger dazu ermutigt, Menschen zu melden, die Frauen bei einer Abtreibung geholfen haben – um im Falle einer Verurteilung eine Belohnung von 10.000 Dollar zu erhalten. Zahlen würden die Verurteilten.

Pojman ist eigentlich Luftfahrtingenieur und hat drei Jahre für die NASA gearbeitet. Inzwischen ist er hauptberuflich einer der wichtigsten Antiabtreibungslobbyisten der USA. Wenn man ihn fragt, was ihn dazu bewegt, sich gegen Abtreibungen einzusetzen, überlegt er kurz und erzählt dann, dass er als junger Mann erlebt habe, dass mehrere befreundete Pärchen im Nachhinein sehr unter einem Schwangerschaftsabbruch gelitten hätten. Am Ende sagt er noch: „Ich hoffe, Texas wird ein Vorbild für die gesamte USA, vielleicht auch für die ganze Welt.“

Ist das Herzschlag-Gesetz nur der Anfang?

Etwa zehn Fahrminuten von Pojmans Büro entfernt liegt die Frauenklinik „Whole Woman’s Health of Austin“. Obwohl zu diesem Zeitpunkt das Herzschlag-Gesetz in Kraft ist, stehen auch hier zwei Freiwillige von „40 Days for Life“, Cathleen und Marty (siehe Titelbild). Die beiden sind schon im Ruhestand, tragen gemütliche Freizeitklamotten, wirken aber wild entschlossen. Während Cathleen ein Schild hochhält, auf dem „We are here to love you both!“ steht, trägt Marty ein Shirt mit dem Aufdruck „I’m on a mission from God“. Auch wenn Marty versichert, ihre Organisation sei nicht politisch, hängt an seinem Shirt der Button „Catholics for Trump“. 

Das Gesetz ist die größte Beschränkung von Abtreibungen in den USA seit ihrer allgemeinen Legalisierung im Jahr 1973. Damals verankerte der Oberste Gerichtshof das Recht von Frauen auf Abtreibung in dem Urteil „Roe versus Wade“. Gerade befasst sich der mehrheitlich konservativ besetzte Supreme Court mit einem Abtreibungsgesetz aus Mississippi, das das Recht auf Schwangerschaftsabbruch noch grundsätzlicher beschneiden würde. Sollte „Roe versus Wade“ vor dem Supreme Court fallen, könnten Schwangerschaftsabbrüche in einigen konservativ oder religiös geprägten Bundesstaaten wie Texas komplett verboten werden – sogar jene vor dem ersten Herzschlag.