Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 16/2021, Foto oben: Eva Kienholz
Vergangenen Samstag auf der Friedrichstraße in Berlin, ein Mann ruft in ein Mikrofon: „Wenn ich heute die Menschen in Schwarz ansehe, glaube ich, dass der Faschismus damals nicht bekämpft wurde!“ Ein Satz wie ein Hammer, zumal er vor einem Bundesministerium fällt – und auch noch dem für Gesundheit. Doch so rabiat der Sprecher klingt, wenn er die schwarz gekleidete Staatsmacht beschreibt, so bunt erscheint die Meute vor ihm. Protestierende halten Luftballons in Herzform hoch, schwenken Fahnen mit dem Konterfei von Che Guevara oder einer Faust, die ein Hakenkreuz zerschmettert, verkünden dazu per Plakat, sie seien „gegen Nazis“. Viele hier sind dem Aufruf von „Es reicht!“ gefolgt, einer Initiative, die ein „Umdenken des Lockdown-Wahnsinns“ fordert.
Die pandemische Lage in Berlin könnte in diesen Tagen kaum verfahrener sein, die Sieben-Tage-Inzidenz steigt seit Wochen. Während die Mannschaft von Hertha BSC nach einem Corona-Ausbruch in Quarantäne steckt und das Krankenhaus Charité mehr als 100 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen versorgt, gehen rechte, linke und politisch kaum einzuordnende Gruppen für mehr Freiheiten auf die Straße. Keine der drei Berliner Corona-Ampeln steht noch auf Grün, trotzdem fordern Menschen lautstark ihre Freiheiten zurück – oder nehmen sie sich einfach still und leise. Gleichzeitig hat fast die Hälfte der bisher knapp 1,7 Millionen kontaktierten Menschen in Berlin keinen Impftermin vereinbart. Nicht nur in der Hauptstadt ist die Situation schwierig, aber vor allem dort. Die Pandemie droht Berlin zu zerreißen.
Wer die Protestierenden vor dem Bundesgesundheitsministerium fragt, wie man sich vor dem Virus schützen sollte, bekommt vor allem zu hören: „Nicht mit einer Maske!“ Stattdessen vertrauen viele auf ein „starkes Immunsystem“. Ein grauhaariger Mann läuft mit einer Pfeife herum. Aus der Pfeife steigt Qualm auf, aus seinem Rucksack ragen zwei Transparente – „Sport statt Spritzen“.
Auch Sophie möchte sich nicht impfen lassen, eine 30-Jährige, die ein Plakat mit einem Zitat von Hannah Arendt dabeihat: „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.“ Sophie ist studierte Designerin, Veganerin, KenFM-Konsumentin und Fridays-for-Future-Anhängerin. Um ihre Augen trägt sie goldenen Glitzer, um ihren Kopf ein Blümchenband. Sie erklärt: „Es ist total wichtig, dass wir gemeinsam und nicht einsam sind.“ …