Jakob Beyer ist einer der Sprecher vom „Aufstand der letzten Generation“. Dafür brach er seine Ausbildung ab.
Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 44/2022, Foto oben: Eva Kienholz
Gerade gab Jakob Beyer einem Fernsehsender ein Interview. Gleich hat er ein Meeting, danach noch eins. Dazwischen schnell einen Kaffee am Berliner Hauptbahnhof. Beyer hat es eilig. In Berlin wurde er vor 29 Jahren geboren, hat in der Stadt sein Abitur gemacht, war dann für ein Jahr in Kanada, „wegen der Wildnis und der Nadelwälder“, Work and Travel. Er ist zurückgekommen nach Berlin und erst einmal geblieben. Dabei ist er überhaupt kein Großstadtmensch. Er mochte die Natur schon als Kind viel lieber. Auf einer Wiese zwischen Hauptbahnhof und Kanzleramt erzählt er Ende Oktober, wie er es als kleiner Junge liebte, in der Natur zu übernachten, oft Urlaub machte mit Freunden, nur auf Rädern und in Zelten. Von Berlin aus ging es durch den Spreewald in die Sächsische Schweiz oder den Ostseeradweg entlang. Erholung. Jetzt ein Fremdwort für ihn.
Mit dem „Aufstand der Letzten Generation“ klebte sich Beyer in diesem Jahr schon oft an den Asphalt der A100 in Berlin, im August an den Rahmen der „Sixtinischen Madonna“ in Dresden, störte die Bundesliga oder das Finale der Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften. Für die einen ist er ein Terrorist, der Menschen im Berufsverkehr peinigt oder Kunstwerke schändet. Für andere ist er die letzte Hoffnung, um eine Klimakatastrophe abzuwenden. Wer sich dem „Aufstand der Letzten Generation“ anschließt, muss mit diesem Konflikt umgehen können. „Selbst in meinem persönlichen Umfeld bekomme ich Zuspruch, aber auch Kritik, muss mich oft rechtfertigen. Aber alle Diskussionen sind mir lieber, als nichts zu tun.“
Nichts zu tun – das bedeutet für Beyer, nichts gegen die Klimakatastrophe zu tun. „Geht doch mal lieber arbeiten“, solche Sätze fliegen ihm und den anderen Aktivisten vom „Aufstand der Letzten Generation“ ständig um die Ohren. Sätze, die ihn schmerzen, die er aber in Kauf nimmt. Fürs Klima. „Es ist ja nicht so, dass wir mit unseren Aktionen von der Gesellschaft gemocht werden wollen. Wir wollen, dass die Politik schnellere Maßnahmen ergreift. Um das zu erreichen, üben wir Druck aus, gewaltfrei.“ Den Vorwurf, bei ihren Straßenblockaden Menschenleben zu gefährden, etwa wenn Rettungswagen nicht durchkommen, weist er zurück, auch nach dem Unfall einer Radfahrerin in Berlin, wo ein Rüstwagen wegen einer ihrer Blockaden erst verspätet zur Unfallstelle kommen konnte. „Im Moment sind wir vor allem betroffen und fühlen mit der Radfahrerin“, sagt Beyer. „Die Sicherheit und das Überleben aller Menschen ist unser wichtigstes Anliegen. Deshalb bilden wir auch immer eine Rettungsgasse und werden dies auch bei künftigen Aktionen tun.“
Im April gingen er und andere der „Letzten Generation“ ins Bankenviertel nach Frankfurt – mit zivilem Widerstand und der Aufforderung: „Stoppt den fossilen Wahnsinn!“ Gestoppt wurden stattdessen Beyer und andere Aktivisten von der hessischen Polizei. Fünf Tage blieb er in Gewahrsam. 23 Stunden am Tag in kargen Einzelzellen, eine Stunde Hofgang hinter hohen Betonmauern mit Stacheldraht. „Wenn ich mal im Hof gesprintet bin vom Anfang bis zum Ende, dann hat das gerade mal drei Sekunden gedauert.“ Immerhin konnte er dort die anderen Aktivisten sehen. „Für mich waren diese Tage im Gefängnis hart. Plötzlich ist man eingesperrt, obwohl man nichts verbrochen hat.“ Bestärkt hätten Beyer die Worte von Henry David Thoreau, der im 19. Jahrhundert mit seinem Essay über zivilen Ungehorsam berühmt wurde: „Unter einer Regierung, die irgendjemand ungerechterweise einkerkert, ist der wahre Ort für einen rechten Mann auch ein Gefängnis.“ Manchmal reicht ein Zitat, um die Zelle zu ertragen.
Seit Kurzem lebt er in einer WG in Leipzig, finanziert sein Leben komplett über Spenden, die der „Aufstand der Letzten Generation“ sammelt. „Berlin ist mir zu groß, zu stressig geworden“, sagt Beyer. Dabei ist er noch oft hier, etwa wenn er sich auf der A100 festklebt. Oder andere Aktivistinnen und Aktivisten treffen will. Viele von ihnen leben in Berlin und starten dort die meisten Aktionen. Seit Oktober wieder fast täglich – und so lange, bis die Regierung zwei Maßnahmen umgesetzt hat: ein Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf den Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr.
Vor genau einem Jahr, als Beyer noch in Berlin wohnte und gerade eine Lehre zum Zimmermann angefangen hatte, nahm er an einem Aktionswochenende teil. „Gerechtigkeit jetzt“ hieß das. Beyer bot über die Bettenbörse zwei Schlafplätze bei sich in der WG an. Eine Frau, die bei ihm übernachtete, war eine Aktivistin vom damals frisch gegründeten „Aufstand der Letzten Generation“. Nach einem langen Gespräch mit ihr wusste Beyer, dass er sich der Gruppe anschließen wollen würde.
Zuvor war er oft mit „Fridays for Future“ auf die Straße gegangen, gehörte aber keiner konkreten Bewegung an, obwohl sein Leben ständig in Bewegung war. Nach dem Abitur und dem Jahr in Kanada arbeitete Beyer bei einem Paketzusteller, machte dann ein Freiwilliges Ökologisches Jahr bei einer solidarischen Landwirtschaft, studierte daraufhin Ökologie und Umweltplanung, ohne Abschluss. „Irgendwann habe ich in diesem Studium keinen Sinn mehr gesehen. Vor allem nachdem mir ein Professor erzählte, dass weniger als die Hälfte seiner Landschaftspläne überhaupt umgesetzt werden.“ Dann doch lieber etwas Handfestes wie eine Ausbildung zum Zimmermann.
Noch Anfang des Jahres machte Beyer beides – Ausbildung und Aktivismus. Um fünf Uhr stand er auf, war bis um 17 Uhr Zimmermann, und zwar sehr gerne, half anschließend dem „Aufstand der Letzten Generation“ bei Organisatorischem. „Irgendwann musste ich mich entscheiden, Prioritäten setzen“, erzählt Jakob Beyer, während er auf sein Handy schaut. „Ich muss jetzt echt los.“ Gerade kann für ihn alles warten. Nur nicht der Kampf fürs Klima.