Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 48/2019, Foto oben: Eva Kienholz
Es ist kalt und windig in Binz. Die Ostsee schlägt hohe Wellen. An so einem Tag wäre hier eigentlich nichts mehr los, die Saison ist lange vorbei. An diesem Samstag im November aber reglementieren Polizisten den Zugang zum Hotel Arkona, vor dem, anders als vor den anderen Hotels in Binz, eine meterhohe Deutschlandfahne hängt. Draußen stehen etwa 500 Demonstranten im Wind, laut und bunt. Drinnen aber ist schon mittags auch mal Abendgarderobe angesagt – der AfD-Flügel begeht sein „Flügelfest“. Journalisten sind nicht willkommen. Sowieso darf nur rein, wer auf der Liste steht. Und wer einmal drin ist, erlebt Andreas Kalbitz im Angriff.
„Wohlstandsverwahrloste Möchtegern-Revolutionäre“, schimpft Kalbitz die Demonstranten vor dem Hotel. „Aber so sind die wenigstens mal an der frischen Luft und hängen nicht in irgendeiner Shisha-Bar rum!“ Gelächter. Geklatsche. Kalbitz’ Worte donnern durch die Lautsprecher, er hat seinen Saal im Griff, etwa 200 Zuhörer. Da Kalbitz nicht Kalbitz wäre, wenn er dem Affen nicht noch mehr Zucker geben würde, bezeichnet er die Menschen da draußen auch als „Degenerationsausschlag“. Der werde sich aber wieder „nivellieren“, da sei er „völlig zuversichtlich“. Applaus. Sowieso viel Applaus für Kalbitz. Der erzählt, dass er mal im Bundestag mit Claudia Roth „zu zweit im Aufzug“ gefahren wäre. Geraune. Kalbitz legt eine Kunstpause ein, nickt sich selbstsicher zu. „Da hätte ich Geschichte schreiben können.“
Geraune. Gelächter. Großer Spaß.
Kalbitz: „Aber so was würde ich ja nicht machen.“ Diese Aussagen fallen knapp ein halbes Jahr nach dem Mord an Walter Lübcke. Eine Frau im Saal quietscht vor Vergnügen.
Das Fest in Binz auf Rügen findet für die AfD in bewegten Zeiten statt. Die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen brachten starke Ergebnisse, aber nicht die erhofften Wahlsiege. Trotzdem fühlt sich der Flügel, der maßgeblich für diese Erfolge verantwortlich zeichnet, im Aufwind. Nun wollen seine Protagonisten mit regionalen Konferenzen ihre Präsenz ausbauen. Es wird erwartet, dass der Flügel beim Bundesparteitag am kommenden Wochenende in Braunschweig mehr Macht beanspruchen wird. Die AfD könnte noch weiter nach rechts rücken.
Jeder versteht Kalbitz
Kalbitz ist die unausgesprochene Nummer zwei des Flügels. Der Star heißt Björn Höcke, auch in Binz, wo er als Letzter und am längsten sprechen darf. Wer aber den Tag im Hotel Arkona verbringt, der gewinnt einen anderen Blick auf Kalbitz, Höcke und auf das Machtgefüge innerhalb ihrer Gruppierung. Kalbitz ist AfD-Chef in Brandenburg. Er war früher Fallschirmjäger bei der Bundeswehr, und damit niemand seinen militärischen Hintergrund vergisst, bringt er häufig martialische Zitate: „Der Frieden ist nur die Abwesenheit von Krieg!“ Kalbitz’ Vergangenheit ist gespickt mit Verbindungen zu rechtsradikalen Strukturen wie der mittlerweile verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend. Er sagt dazu: „Was schert’s die deutsche Eiche, wenn sich die Sau dran reibt.“ Gebannt und amüsiert lauschen alle seinen Worten. Der Ton: aggressiv-süffisant. Kalbitz provoziert, pöbelt, aber so, dass ihn auch ja jeder versteht. Er hätte mal eine AfD-Kollegin runtergeputzt, weil sie angefangen hätte, „diese Politiker-deutschen Wörter“ zu benutzen. „Das muss man evaluieren, das klären wir bilateral“, äfft er sie nach. „Da hab ich ihr gesagt: Hörst du dich reden? Du hörst dich an wie die!“
Nein, so wie „die“ möchte Kalbitz auf keinen Fall sein. Ihm geht es darum, „diesen Deutschland-Abschaffern“ klarzumachen: „Es gibt kein ruhiges Hinterland mehr für euch. Wir sind überall.“ Überall in der AfD ist auch Kalbitz, keiner ist so gut vernetzt wie er, der von möglichen Koalitionen sagt: „Wenn es zu Allianzen kommt, wird es sich dergestalt vollziehen, dass sich andere uns annähern und nicht andersrum. Es geht um die positive konservative Konterrevolution!“ Das kann man auch als Gruß an Höcke werten, der in Thüringen zuletzt mit Gesprächsangeboten an die verhasste Konkurrenz aufgefallen ist. Während Kalbitz all das sagt, reist Höcke noch an.
Kalbitz’ Rede laviert zum Bundesparteitag. „Im Moment führt er in manchen Bereichen zur Hyperventilation. Weil da einige um ihre Pöstchen fürchten. Die können sich selber mal überlegen warum.“ Kalbitz beschwört den Wandel: „Entscheidend ist, dass dieses politische Schlachtschiff fährt. Und entscheidend ist, dass wenn der Kapitän weggeschossen wird, ein nächster ans Steuer geht. Der Kapitän ist nicht wichtig. Das Schiff ist wichtig.“
Um die Reden der Impresarios Kalbitz und Höcke herum wirkt das Flügelfest wie ein Klassentreffen. Mittags gibt es Kabeljau oder Rinderroulade, als Getränke Kaffee oder Bier, als Gesprächsthemen den Niedergang Deutschlands oder einer ganz bestimmten Region. In der Essensschlange reden ein paar Flügelisten über den endlich bald eintrudelnden Höcke. „Der Führer kommt zu spät“, sagt ein Mann, alle lachen, ein Scherz, natürlich. „Ich mag den Kalbitz eh lieber“, sagt sein Nebenmann. Aus den Boxen dudelt die gesamte Mittagspause über Blasmusik.
Einer der Organisatoren des Flügelfestes ist Enrico Komning, AfD-Bundestagspolitiker und „Alter Herr“ der Greifswalder Burschenschaft Rugia, die selbst in der weit rechts stehenden Szene der Burschenschaftler sehr weit rechts steht. Ähnlich wie der Flügel in der AfD. So wird das Fest auch damit begonnen, dass burschenhaft kostümierte junge Herren Fahnen reintragen, dazu Marschmusik.
Komning selbst versucht sich in seiner Rede an einer Einordnung: „Man tritt dem Flügel nicht bei. Flügel ist kein festgelegter Meinungskorridor und der Flügel verpflichtet niemanden zu etwas. Wir sind nicht das, was man uns anzuhängen versucht. Wir sind keine Extremisten. Wir stehen auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ Geklatsche. Anders sieht das der Verfassungsschutz. Seit Anfang dieses Jahres gilt der Flügel offiziell als Verdachtsfall.
Es gab auf Rügen viel Ärger darum, dass dieses Treffen im Hotel Arkona steigen darf. Es ist nicht das erste AfD-Treffen, schon seit mehr als vier Jahren ist die Partei hier willkommen. Hoteldirektorin Birte Löhr hält sogar eine kleine Rede, spricht vom Flügelfest – einer geschlossenen Veranstaltung – als „gelebter Demokratie“, und wird mit stehenden Ovationen begrüßt und verabschiedet.
„Mal lieber was machen“
Der gesamte Tag in Binz, wenn man ihn mit der AfD verbringt, vermittelt das sehr unangenehme Gefühl von dem, was kommt, wenn diese Leute einmal drankommen. Fünf Kilometer weiter zieht sich die renovierte ehemalige Kraft-durch-Freude-Ferienanlage Prora an der Küste entlang. Vom Hotel Arkona geht es vorbei an zierlich-weißen Villen, Binzer Bäderarchitektur, die an Kolonialbauten erinnert, zum Hotel Rugard, das ebenfalls Birte Löhr führt. Hier sind Flügelisten abgestiegen, hier reden und trinken sie, lange nach dem offiziellen Fest. Das Hotel Rugard wirkt von innen, als würde RTL 2 Titanic neu verfilmen. Kitschig angegoldete Wände, auch mal holzvertäfelt, die Geländer wie Nachbauten einer imaginierten Schiffsreling. In dieser Umgebung baut sich irgendwann am Abend ein offensichtlich deutscher Küchenmitarbeiter vor einem offenbar migrantischen, schmächtigen Küchenjungen auf, pflaumt ihn an, während der mit jeder Silbe kleiner wird: „Hast du keine Beine? Du sollst laufen, nicht den Aufzug benutzen! Oder willst du etwa nach Hause gehen?“ Einige Meter weiter sitzen junge Männer an der Bar bei Longdrinks und Nüsschen. Und, war‘s ein gutes Fest? „Ach, alles nur Gelaber“, sagt einer der Typen. „Man müsste lieber was machen.“
Nein, gemacht wird an diesem Tag beim Flügelfest nichts, sondern geredet, was zu tun sei. Vor allem in der Mittagspause.
„Nur weil man für Deutschland ist, ist man doch nicht gleich ein Nazi. Die haben einfach alle eine Macke!“, findet ein junger Teilnehmer. Er bezeichnet sich als „Künstler“. Der Grund für ihn, zur AfD zu gehen, ist sein Nachbar, der trotz einer Krebserkrankung vom Arbeitsamt tyrannisiert würde. Er selbst sei auch enttäuscht vom Staat, es schafften ja nur ausländische Künstler in deutsche Galerien. Er hätte noch nie ausstellen dürfen. Das frustriert ihn. „Ich habe einen sehr hohen IQ“, sagt er. „Ich habe mich intensiv mit dem Buch von Björn Höcke beschäftigt. Und ich bin zum Schluss gekommen: Höcke ist kein Nazi.“
Höcke erklärt Goodhart
Höcke lächelt von den Veranstaltungsflyern zum Zitat „Nur die Vielfalt macht unsere Partei groß, nur die Einigkeit macht uns stark!“ Dann, mit Verspätung, ist Höcke da.
Ein paar machen Fotos, filmen. Höcke bittet, das zu lassen. Aber nicht, „weil ich vorhabe, heute eine neuerliche Provokation zu setzen“. Er möchte reden „wie im engsten Familienkreis“. Doch er redet wie in einem Proseminar. Zitiert diverse Soziologen, möchte das „philosophisch-historisch-politische Tiefenbewusstsein“ seiner Zuhörer erweitern. So kompliziert wie das klingt, kommt es auch an: nicht.
Lange erklärt Höcke eine Theorie des englischen Publizisten David Goodhart, nach der die Weltbevölkerung in zwei Meta-Klassen zerfalle, die globalisierten „Anywheres“ und die dagebliebenen „Somewheres“. Die Anywheres schlürfen „Latto macchiate“ in Sankt Moritz, bevor sie nach London und New York weiterjetten. Die „Somewheres“ leben zumeist auf dem Land, sie können oder wollen nicht weg. Laut Goodhart spalten diese Lebensentwürfe ganze Gesellschaften. Höcke betont ausgiebig, dass Goodhart ja links sei. Der Applaus: höflich.
„Wir sind mit und nach David Goodhart die Somewheres“, schlussfolgert Höcke. Ihm nach würden die Somewheres, „die Vergessenen, die Geschmähten, die Verlachten, die Verachteten der Gesellschaft“, in Deutschland 80 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Darin sieht er das tatsächliche Potenzial der AfD.
Seine Gesprächsangebote an andere Parteien nach der Wahl in Thüringen bezeichnet Höcke als „taktische Spiele“. „Wir haben die Union gelockt und wir haben dort zu einem Gärungsprozess beigetragen.“ Bizarr wird die Rede, als er referiert, warum er kein Faschist sein könne, wie bösartigerweise immer wieder behauptet werde: Er sei schließlich ein „großer Freund eines der südlichsten deutschen Kulturräume – nämlich Südtirols.“
Verglichen mit Kalbitz wirkt Höcke müde, verkopft. Vielleicht war die Anreise aus Thüringen zu lang, vielleicht auch die Theorien der linken, rechten und zentrierten Soziologen zu schwer. Der Kern seines Problems aber dürfte darin liegen, dass Höcke jenen gefallen will, die er verachtet – also dem linksliberalen Establishment. Das hat er mit Thilo Sarrazin gemein. Offensichtlich hatte kaum einer im Saal von jenen Denkern gehört, die Höcke erwähnt hat, oder glaubt auch nur, dass es so etwas geben sollte: Denker. Linke. Linke Denker. Höcke will sogar einen linken Begriff wie „Vielfalt“ besetzen.
Während er noch angereist ist, war Kalbitz schon in Binz, hat weiter Netzwerke geknüpft. Höcke wirkt innerhalb des Flügels wie der viel beschäftigte Anywhere, im Gegensatz zu Kalbitz, dem brachial-völkischen Somewhere. Höcke das Hirn, Kalbitz die Faust des Flügels. Falls die AfD wirklich mal etwas zu sagen haben sollte, ist abzusehen, dass Kalbitz führen, und Höcke höchstens den Heimatminister machen wird.
Beim Flügelfest erklingt am Ende die deutsche Nationalhymne. Burschen tragen die Fahnen aus dem Saal. Einer aus dem Publikum ruft: „Fahne hoch! Die Fahne hoch!“ Einige lachen, andere sagen es dem Mann nach, einer ruft: „Aber textsicher sind sie alle!“ Hö, hö, hö. „Die Fahne hoch!“ war der Titel, unter dem die NSDAP-Parteihymne, das Horst-Wessel-Lied, zum ersten Mal abgedruckt wurde.
Geraune. Gelächter. Großer Spaß.