Neubrandenburg, Gifhorn, Görlitz: Nicht nur militante Neonazis greifen vermehrt CSD-Paraden an. Doch die Community wehrt sich.
Erschienen auf freitag.de, 11.11.24, Foto oben: Eva Kienholz
Ende September prallen im sächsischen Görlitz zwei Welten aufeinander. Eine Welt, die sich mit einer riesigen Regenbogenflagge für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt einsetzt. Und eine Welt, die mit hochgereckten Fäusten, Reichsflaggen und NS-Parolen zurück in eine längst überwunden geglaubte Zeit rauschen möchte.
Unter denjenigen, die in Görlitz gegen den Christopher Street Day protestieren, sind „Junge Nationalisten“, die Jugendorganisation der NPD, die sich inzwischen „Die Heimat“ nennt. Auch dabei sind Kader der „Elblandrevolte“, militanter Neonazi-Nachwuchs aus Dresden – einer von ihnen griff im Europawahlkampf den SPD-Politiker Matthias Ecke an. Es sind überwiegend junge, schwarz gekleidete Männer, die dort gegen die queere Community vorgehen. Sie skandieren Parolen der „Identitären Bewegung“: „Europa, Jugend, Reconquista“ – oder rufen die verbotene SA-Parole „Deutschland erwache“. Und sie äußern Tötungsfantasien gegen Homosexuelle: „HIV, hilf uns doch, Schwule gibt es immer noch“. Schließlich schreitet die Polizei ein – und leitet Ermittlungen ein, unter anderem wegen Volksverhetzung.
Besonders seit diesem Jahr macht die rechte Szene mobil gegen queere Menschen, die immer mehr Polizeischutz brauchen, wenn sie für ihre Rechte demonstrieren oder einfach sich selbst und ihre Gemeinschaft feiern wollen. Dabei ging es beim Christopher Street Day ursprünglich um polizeiliche Repressionen. Am 28. Juni 1969 stürmten Polizisten in New York die Schwulen- und Lesbenbar „Stonewall Inn“ in der Christopher Street und lösten mehrtägige Proteste von Homo- und Transsexuellen aus. Heute sind zumindest hierzulande staatliche Repressionen in den Hintergrund gerückt. Die Gefahr kommt von rechts. Und sie reicht längst über die klassische Neonaziszene hinaus.
Einer, der viel über diese neue Dimension rechter Mobilmachung gegen die queere Szene weiß, ist Kai Bölle. Er ist Vorstandsmitglied von CSD Deutschland, einem Dachverband aller deutschen Christopher-Street-Day-Vereine, -Initiativen und -Projekte. Für Bölle ist dieser „sichtbare, pöbelnde gewaltbereite Gegenwind neu und dramatisch ansteigend“. Als einen Dammbruch bezeichnet er den CSD in Bautzen im August dieses Jahres. „Schon früher wurden mal Regenbogenflaggen am Rande eines CSD angezündet. In Bautzen aber brüllten plötzlich Leute von der Gegendemo, dass wir angezündet werden sollten.“ Auch würden queere Vereine und CSD-Organisierende in letzter Zeit verstärkt Hassmails und Morddrohungen erhalten. Bölle sagt: „Die zeigen wir konsequent an.“
Nicht nur in Sachsen, auch in anderen Bundesländern wie in Mecklenburg-Vorpommern hat sich das Klima gegen die queere Szene verändert. Schon in der Vergangenheit wurde etwa in Neubrandenburg die am Bahnhof gehisste Regenbogenflagge mehrfach heruntergerissen. Dieses Jahr und auch schon im Jahr davor wurde sie kurz vor dem CSD durch eine Hakenkreuzflagge ersetzt. In beiden Fällen blieben die Täter unbekannt. In einer Sitzung im Oktober beschloss die Stadtvertretung, die Regenbogenflagge vor dem Bahnhof zu entfernen.
Nicht nur die gesamte AfD-Fraktion stimmte für den Antrag, auch Mitglieder vom BSW votierten dafür, die Flagge abzuhängen. Damit soll – so die Begründung – verhindert werden, dass die Flagge erneut durch Unbekannte gegen eine Fahne mit Nazi-Symbolik ersetzt wird. Doch eigentlich ging es dem Antragsteller, ein fraktionsloser Unternehmer, der immer wieder wegen queerfeindlicher Äußerungen in der Kritik stand, um den Rücktritt des bisherigen Oberbürgermeisters, der offen homosexuell lebt – was dann auch geschah.
Auch wenn darauf Proteste, eine Petition und der skurrile Vorschlag des Antragstellers, die Regenbogenflagge abwechselnd mit der Deutschlandflagge zu hissen, folgten, ist für Robert Schiedewitz von Lobbi, einer Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern, der Beschluss der Stadtvertretung ein gewaltiger Rückschritt. Er unterstreiche außerdem, wie breit „die queerfeindliche Phalanx“ inzwischen aufgestellt ist. Aktuell nimmt Schiedewitz eine spürbare Zunahme an Anfeindungen und Einschüchterungsversuchen gegenüber queeren Menschen wahr – und als Reaktion darauf einen großen Bedarf der Community, sich mit der eigenen Sicherheit zu beschäftigen. „Beratungsanfragen nehmen daher auch bei uns zu, ein Mehr an Angriffen, also Gewalttaten, haben wir noch nicht registriert“, erzählt er.
Schiedewitz geht aber davon aus, dass das Dunkelfeld ohnehin sehr groß sei. „Es ist möglich, dass die Betroffenen häufig versuchen, das Geschehene mit sich allein oder innerhalb der Community auszumachen – und zudem auch Gewalt gegen queere Personen nicht grundsätzlich von allen als ‚rechts‘ motiviert gelabelt wird, weshalb nicht alle Vorfälle bei uns landen.“ Schiedewitz erwartet, dass künftig nicht nur das Angriffsgeschehen zunimmt, sondern Angriffe auch häufiger bekannt werden.
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern in Europa wurde eine CSD-Parade in Deutschland noch nicht wegen Drohungen abgesagt, aber die Unsicherheit ist bei vielen Teilnehmenden da, trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen und einer inzwischen sensibilisierten Polizei. Viele sehen davon ab, die Regenbogenflagge schon auf der Anreise im Zug auszupacken, aus Angst vor Anfeindungen. Für Schlagzeilen sorgte zuletzt die niedersächsische Kleinstadt Gifhorn: Dort wurde eine Frau an einer Bushaltestelle von mehreren Männern angegriffen. Die mutmaßlichen Täter kamen laut Polizei von einer CSD-Gegendemo in Wolfsburg.
Für Kai Bölle von CSD Deutschland sind solche Entwicklungen zwar neu, der Boden für sie sei aber schon lange bereitet. „Unsere Gesellschaft ist so tolerant wie noch nie, aber unter dieser Toleranz schlummert etwas. Homophobie gab und gibt es in allen Gewaltregimes, heute etwa in autoritären Staaten wie Russland oder Ungarn. Aber auch in vielen Religionen werden seit über 2000 Jahren homosexuelle Menschen stigmatisiert, das kann man nicht einfach in wenigen Jahrzehnten ausmerzen.“ Heute würden sich Rechtsextreme wieder uralter Klischees bedienen, in der Hoffnung, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können.
Auf die Frage, woher diese neue Anti-LGBTQ-Fokussierung der Rechten kommt, verweist Bölle global auf die Alt-Right-Bewegung in den USA, die durch Donald Trump immer stärker geworden ist und mit Desinformationskampagnen den Weg bereitet. In Deutschland sei die AfD zu nennen. Die Partei hätte den linken Diskurs über gendersensible Sprache genutzt, um dieses Thema aufzublasen und in ständiger Erregung sowohl gegen die Sprache als auch gegen verschiedene Minderheiten zu hetzen.
Kreativ und kämpferisch
Robert Schiedewitz von Lobbi ist der Ansicht, dass sich verschiedene Täterstrukturen kaum trennen lassen, da sie sich häufig überschneiden und Rechtsextreme mittlerweile auch arbeitsteilig agieren würden. „Die AfD leistet einen großen Beitrag, queerfeindliche Einstellungen zu verbreiten und die queere Community als Feindbild zu framen, ist aber natürlich strategisch sehr bemüht und gut beraten, nicht direkt mit Gewalttaten verbunden zu werden. Die organisierte Neonaziszene stellt die Struktur für lokale oder kleinere Gruppen von meist jüngeren Neonazis, wie sie auch am Rande von CSD-Paraden maßgeblich in Erscheinung treten.“ Laut Schiedewitz fühlten sich mittlerweile viele verschiedene rechte Akteure ermächtigt, auf all die Hetze auch Gewalttaten folgen zu lassen.
Tatsächlich hetzt die AfD schon seit geraumer Zeit gegen angeblichen „Genderwahn“, gegen von ihr so bezeichnete „Frühsexualisierung in der Schule“ und ganz allgemein gegen die Vorstellung, wonach es mehr als zwei Geschlechter geben darf. So provozierte die sächsische AfD-Fraktion im Juli 2023 mit der Forderung nach einem „Gender-Verbot“ an Universitäten, bebildert mit einem umgedrehten Dreieck in Regenbogenfarben. Das Symbol erinnert wohl kaum zufällig an das umgedrehte Dreieck, das Häftlinge in nationalsozialistischen Konzentrationslagern an ihrer Kleidung tragen mussten.
Anlässlich des „Pride Month“, der jedes Jahr im Juni die sexuelle Vielfalt feiert, posaunte im Juni 2023 etwa der AfD-Europaabgeordnete Maximilian Krah im Podcast des neurechten „Instituts für Staatspolitik“: „Das Lustigste, was ich beim Pride Month erlebt habe, war 2021. Da hatte die US-Botschaft in Kabul ganz stolz den Pride Month ausgerufen. Es dauerte keine drei Wochen, bis die Taliban in Kabul eingerückt sind. Ich glaube, dass das die einzig richtige Antwort auf den Pride Month gewesen ist.“
Ebenso im vergangenen Jahr riefen rechtsextreme Netzaktivisten den „Stolzmonat“ auf X aus, um ihre Queerfeindlichkeit zum Ausdruck zu bringen und den Monat nationalistisch umzudeuten. Auch die AfD sprang direkt auf dieses Pferd, postete „Schwarz-Rot-Gold ist bunt genug“ oder produzierte zur diesjährigen Fußball-Europameisterschaft ein weißes „Stolz-Trikot“ mit der deutschen Nationalflagge, weil ihr „das pinke EM-Trikot nicht gefällt“. Auch andere Gruppierungen aus dem Dunstkreis der AfD wollten im Juni ganz besonders stolz sein.
Zwei Aktivistinnen der islamfeindlichen Initiative „Lukreta“, die sich angeblich für Frauenrechte starkmachen will und die Männer mit Migrationshintergrund kriminalisiert, besuchten den CSD in Essen. Sie posierten dort vollverschleiert für die Kamera – ohne klarzumachen, was das mit dem CSD zu tun hat. Für ein anderes Foto ließen sie sich mit geflochtenen Zöpfen und in langen Kleidern ablichten, zeigten dazu selbstgebastelte Plakate mit nur zwei Gendersymbolen und dem durchgestrichenen Selbstbestimmungsgesetz.
Wie kreativ und kämpferisch die queere Szene mit solchem Gegenwind von rechts umgeht, zeigte zuletzt der Aktivist und Influencer Fabian Grischkat: Um den Begriff zurückzuerobern, hat er dieses Jahr den „Stolzmonat“ als Wortmarke beim Europäischen Markenamt angemeldet. Im gleichnamigen Onlineshop verkauft er Klamotten, deren Erlöse an eine queere Stiftung gehen.
Während der Hass auf der Straße wie etwa in Görlitz sichtbar und auch zählbar ist – bei dem CSD Ende September nahmen laut Polizeiangaben etwa 460 Leute am Gegenprotest teil –, ist er im Internet und besonders in den sozialen Medien eine Blackbox, obwohl er dort noch perfider auf die Spitze getrieben wird. „Früher“, erzählt Kai Bölle, „hätten sich Leute in den Kommentarspalten über die Ehe für alle geärgert, heute werden kleine Bilder unter queere Beiträge gepostet, die Figuren mit Maschinenpistolen zeigen oder Panzer, die auf einen schießen. Das bedeutet nichts anderes als: Ihr gehört vernichtet.“
Das sei zwar nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, aber im weitestgehend straffreien Raum Social Media würden solche Leute viel Platz einnehmen. „Social Media wirkt wie ein Brandbeschleuniger“, meint Bölle. „Sofort findet man Zustimmung, der Hass ist die ganze Zeit am Köcheln.“ Er appelliert an die Plattformbetreiber, Hass-Kriminalität im Internet massiver zu verfolgen.
Hört man sich in der queeren Community um, dann ist die wachsende Pride-Bewegung vor allem auch ein emanzipatorischer Impuls. Viele junge Leute wollen Vielfalt genau dort erkämpfen, wo sie leben, also organisieren sie einfach ihre eigenen Paraden, gerade in ländlichen Regionen – oder in kleineren ostdeutschen Städten wie Görlitz. Was jenen CSD von anderen unterscheidet, ist seine Grenzüberschreitung. Die Parade reicht über die Neiße in die polnische Nachbarstadt Zgorzelec.
Diese Vision einer gelebten Europastadt hat den gebürtigen Polen Wojciech Urlich von Berlin nach Görlitz gelockt. Vor zwei Jahren hat er zusammen mit einem kleinen Team den ersten CSD in Görlitz und Zgorzelec organisiert. Nahmen im ersten Jahr etwa 400 Leute an der Parade teil, waren es dieses Jahr bei der dritten Auflage schon doppelt so viele Menschen. Dieses Jahr fand allerdings zum ersten Mal auch eine Gegendemo statt – auf der deutschen Seite war sie deutlich größer als auf der polnischen.
Allein auf die AfD schieben will Urlich diese neue Anti-LGBTQ-Fokussierung von rechts aber nicht. „Die ganze Gesellschaft wird konservativer und rechtsextremer“, meint er. Aber die AfD würde den Leuten, die in der Liberalisierung eine Bedrohung sehen, eine politische Heimat geben – und auch die Berechtigung, sich gegen CSD-Paraden zu positionieren. „Eine Queerfeindlichkeit war schon immer da, jetzt aber bricht sie durch – auch durch den Erfolg der AfD.“
Bei der diesjährigen Kreistagswahl kam die AfD in Görlitz als stärkste Kraft auf etwa 36 Prozent der Stimmen. „Das bedeutet“, sagt Urlich, „dass etwa jeder Dritte hier die AfD wählt.“ Umso wichtiger findet er die Solidarität, die es in der Zivilgesellschaft gibt sowie die Akzeptanz von Seiten der Behörden. Sowohl der deutsche Kulturbürgermeister als auch der polnische Bürgermeister der beiden Grenzstädte haben auf dem CSD Grußworte gesprochen.
Auch wenn es keine Gewalttaten am Rande der Parade gab, bedauern Urlich und andere Beteiligte die Entwicklungen. Früher hätte man sich einfach auf den CSD gefreut, eine gute Zeit gehabt. Jetzt gibt es viel mehr Gedanken an die Sicherheit – und eine angespannte Stimmung während der Parade. Urlich erzählt noch von einer Kooperation, die es mit der Deutschen Bahn gegeben hätte. „Unsere bunten Plakate, die den CSD beworben haben, hingen in verschiedenen Bahnhöfen, auch in Dresden. Das sahen bestimmt die Leute aus dem rechtsextremen Milieu als Provokation.“ Davon einschüchtern lassen will er sich aber nicht. „Beim CSD geht es doch genau darum: um Sichtbarkeit. Da, wo ich lebe, kämpfe ich dafür, so zu leben, wie ich bin. Und so wird es auch bleiben.“