Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 34/2022, Foto oben: Eva Kienholz
Es ist die erste Meldung, die Ferat Koçak nach seinem Urlaub in diesem Monat liest: „Im Südosten Berlins ritzen Unbekannte Hakenkreuze in mehr als 80 Autos.“ Der rechte Terror in Neukölln geht also weiter. So erzählt es Koçak nach seiner Rückkehr nach Berlin in seinem Abgeordnetenbüro in Neukölln. Koçak, schwarzes Shirt mit dem Aufdruck „Black Lives Matter“, rot gefärbter Bart, sitzt seit vergangenem Jahr für die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Er twittert als @der_neukoellner, sieht sich als antifaschistischer Aktivist im Parlament und wirkt wie jemand, den nichts so schnell umhauen kann – wäre da nicht die Nacht zum 1. Februar 2018.
In jener Nacht wurde ein Brandanschlag auf sein Auto verübt, das in der Garageneinfahrt neben dem Haus seiner Eltern stand. Gegen drei Uhr nachts sei er wach geworden. „Draußen war es viel zu hell für diese Uhrzeit. Ich ging also zum Fenster und sah meterhohe Flammen, die schon auf die Hausfassade übergesprungen waren. Fast hätten sie auch die Gasleitung erreicht, das wäre dann wohl tödlich ausgegangen.“ Wenn Koçak von dieser Nacht berichtet, scheint sie nicht schon vier Jahre zurückzuliegen. Die Bilder des Feuers haben sich in seine Erinnerung eingebrannt.
Am 29. August startet in Berlin nun der Prozess gegen die Hauptverdächtigen der rechtsextremen Anschlagsserie, die als Neukölln-Komplex bezeichnet wird. Allein zwischen 2016 und 2019 zählt das Landeskriminalamt 70 Taten, darunter mindestens 14 Brandstiftungen und 35 Sachbeschädigungen. Meistens traf es Menschen, die sich im Bezirk Neukölln gegen Rechtsextremismus engagieren und wohl deswegen eingeschüchtert werden sollten. Die Hauptangeklagten heißen Tilo P. und Sebastian T. – beide sind fest im rechtsextremen Milieu verankert.
Tilo P. war bis zu seinem Parteiaustritt 2019 Vorstandsmitglied der AfD in Neukölln, er kann als Bindeglied zwischen AfD und Neonaziszene betrachtet werden. Sebastian T. nahm zwischen 2016 und 2018 immer wieder an Veranstaltungen der AfD Neukölln teil. Anfang der 2010er Jahre war T. in der mittlerweile aufgelösten Kameradschaft „Nationaler Widerstand Berlin“ aktiv, danach NPD-Kreisvorsitzender in Neukölln. Spätestens seit Ende 2020 gehört T. der neonazistischen Kleinstpartei „III. Weg“ an. Bis Mai 2016 saß er im Gefängnis. Seitdem häufen sich die rechtsextremen Anschläge in Neukölln.
Nicht nur Ferat Koçak hat schlimme Erinnerungen an jene Nacht im Februar 2018. In derselben Nacht ging in Neukölln auch das Auto des Buchhändlers Heinz Ostermann in Flammen auf. Es war bereits der dritte Anschlag gegen Ostermann. Schon im Dezember 2016 wurden nachts die Scheiben seiner Buchhandlung „Leporello“ eingeworfen. Zehn Tage zuvor hatte in der Buchhandlung eine Veranstaltung im Rahmen der Initiative „Neuköllner Buchläden gegen Rechtspopulismus und Rassismus“ stattgefunden – als Reaktion auf den Einzug der AfD ins Berliner Abgeordnetenhaus.
Später kam ans Licht, dass Tilo P., damals einfaches Parteimitglied der AfD, diese Veranstaltung in Ostermanns Buchhandlung besuchen wollte, ihm aber parteiintern davon abgeraten wurde. Kurz darauf wurden die Scheiben des Buchladens eingeworfen. Einen Monat später kam es zum ersten Brandanschlag auf Ostermanns Auto. Einschüchtern ließ sich Ostermann davon aber nicht. Am Telefon erzählt er: „Für mich war es wichtig, dass ich damit an die Öffentlichkeit gehe und eben nicht meinen Mund halte.“ 2018 gründete Ostermann mit anderen Betroffenen der Neuköllner Anschläge die Initiative „Rudow empört sich. Gemeinsam für Respekt und Vielfalt“.
Indizien führten bereits unmittelbar nach dem Brandanschlag auf Koçaks Wagen zu Tilo P. und Sebastian T. Die Rechtsextremisten hatten den Politiker vor dem Anschlag immer wieder ausgespäht. Etwa zwei Wochen vor der Brandstiftung beobachtete P. ihn bei einem Treffen mit Parteikollegen. „Ein roter Smart“, übermittelte P. anschließend T. am Telefon. „Na, dann fahr hinterher“, entgegnete dieser. Der Verfassungsschutz hatte die beiden Verdächtigen dabei abgehört – nur gewarnt wurde Koçak nicht. Das Prinzip „Quellenschutz vor Opferschutz“ kennt man noch aus den Ermittlungen im NSU-Komplex.
Bereits im Dezember 2020 wurden Tilo P. und Sebastian T. festgenommen, kurze Zeit später aber aus Mangel an Beweisen wieder entlassen. Handfeste Beweise, dass die beiden Koçaks und Ostermanns Autos tatsächlich angezündet haben, gibt es bis heute nicht. Allerdings hatte sich die Anklage gegen P. durch eine Aussage erhärtet, die er im November vergangenen Jahres in Untersuchungshaft gegenüber einem Gesinnungsgenossen getätigt haben soll und die der Verfassungsschutz mitgehört hat. Die Behörden wollten ihm „jetzt auch noch wegen den anderen Sachen was anhängen“, soll er gesagt haben – dabei habe er doch „nur Schmiere“ gestanden.
Auch andere Indizien sprechen dafür, dass Tilo P. und Sebastian T. den Brandanschlag auf Koçaks Auto zu verantworten haben. Nur einen Tag nach dem Anschlag wurde bei einer Hausdurchsuchung eine Sturmhaube in der Wohnung von P. gefunden. Außerdem ergab die Auswertung des Computers von P., dass er das Grundstück der Eltern von Koçak vor dem Anschlag mit Google Earth ausgespäht hatte. Auch auf dem Computer von T. fanden die Ermittler Indizien. Nur wenige Stunden nach dem Anschlag befasste sich T. intensiv mit der Berichterstattung über die Brandstiftung.
So wichtig eine juristische Aufarbeitung der Anschlagsserie auch ist, der Prozess vor dem Amtsgericht Tiergarten wird schon im Vorfeld von einer Entscheidung der zuständigen Richterin überschattet: Der Antrag Koçaks, als Nebenkläger zugelassen zu werden, wurde abgelehnt – mit der Begründung, dass dieser „keine körperlichen und seelischen Schäden“ erlitten habe, die eine Zulassung als Nebenkläger rechtfertigen würden. Dabei hatte Koçak in seinem Antrag von den psychischen und physischen Folgen der Tat, die ihn bis heute belasten, ausführlich berichtet. Er erzählt: „Ich musste zweimal meinen Job wechseln, weil ich nicht mehr leistungsfähig war. Meine Mutter erlitt nach dem Anschlag einen Herzinfarkt. Mehrmals und auch erst vor Kurzem habe ich eine psychologische Beratungsstelle aufgesucht, weil die Angstzustände und die Schlafstörungen zugenommen haben und mich die Bilder des Feuers wieder verfolgen.“
Mit dieser Entscheidung sieht sich Koçak zum dritten Mal als Opfer des Brandanschlags. Erst der Anschlag selbst, dann der Skandal, dass die Polizei bereits vor dem Anschlag wusste, dass er von den Verdächtigen ausgespäht wurde, ihn aber nicht gewarnt hatte, und jetzt die Ablehnung der Nebenklage, gegen die er allerdings Beschwerde eingelegt habe. Koçak sagt: „Solange Richter Opfer von rechtsextremem Terror so behandeln, zeigt sich, dass Deutschland nicht nur ein Problem mit Nazis hat, sondern auch ein strukturelles Problem in Justiz und Sicherheitsbehörden.“
Allerdings sieht sich Koçak nicht nur als Opfer: „Für die Täter war es wohl der krasseste Schlag ins Gesicht, dass ich es letztes Jahr ins Berliner Abgeordnetenhaus geschafft habe.“ Dort will er seine Themen, Antirassismus und Antifaschismus, sichtbarer machen – und all den Betroffenen von rechtem Terror eine Stimme geben, die sonst nicht gehört werden.
Um das Ermittlungsvorgehen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz im Neukölln-Komplex zu beleuchten, hat das Berliner Abgeordnetenhaus Anfang Mai einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Gefordert hat das auch Koçak. Spätestens, so erzählt er es in seinem Büro, als er 2020 von Ungereimtheiten nach einer Beschwerde seiner Anwältin erfuhr. Diese sei in den Akten auf das Protokoll einer Telefonüberwachung der beiden Hauptverdächtigen gestoßen. Bei dem abgehörten Gespräch soll Tilo P. davon berichtet haben, dass ihm der Staatsanwalt, der ihn vernommen hat, anvertraut habe, dass er sich keine Sorgen machen müsse, er sei selbst AfD-Wähler. Auch der ermittelnde Staatsanwalt soll von dem Abhörprotokoll gewusst haben, aber nicht eingeschritten sein.
Bis zu drei Jahre könnte es dauern, bis der Untersuchungsausschuss alle Akten ausgewertet und die Zeugen vernommen hat. Insgesamt besteht der Ausschuss aus elf Abgeordneten der sechs Fraktionen sowie elf stellvertretenden Mitgliedern, zu denen Ferat Koçak gehört. Niklas Schrader, mit dem sich Koçak das Abgeordnetenbüro teilt, sitzt für die Linke im Ausschuss. „Mir war es wichtig“, sagt Koçak, „dass ich auch dabei bin. Schließlich war die Aufklärung der Anschlagsserie mein Hauptthema im Wahlkampf und ist es auch im Abgeordnetenhaus.“ Natürlich sei es heikel gewesen, weil er aufgrund von Befangenheit nicht im Ausschuss hätte sitzen sollen. „Für mich ist aber ganz klar: Wenn es um Themen geht, die mich betreffen, halte ich mich raus.“
Wer sich aus dem Untersuchungsausschuss nicht raushalten möchte, ist die AfD. Ihr Fraktionsreferent ist Robert Eschricht, Vorsitzender des Neuköllner AfD-Bezirksverbandes. Dieser übernahm das Amt im Herbst 2019 – etwa ein halbes Jahr nachdem der Hauptverdächtige Tilo P. seinen Posten als Beisitzer im Bezirksvorstand geräumt und die Partei verlassen hatte. Demnach liegt es nahe, zu vermuten, dass die beiden sich kennen.
Zurzeit befindet sich der Untersuchungsausschuss nach zwei Sitzungen in der Sommerpause. Die nächste Sitzung findet am 2. September statt. Dann sollen erstmals Betroffene der Anschläge, darunter der Buchhändler Heinz Ostermann, befragt werden.
Den nun beginnenden Prozess betrachtet Ostermann mit gemischten Gefühlen. Vor allem die Ablehnung der Nebenklage Koçaks habe seine Erwartungen getrübt. „Ich hoffe da mehr auf den Untersuchungsausschuss.“ Dann verweist er auf einen Open-Air-Filmabend der Initiative „Rudow empört sich“, unweit seiner Buchhandlung. Am 25. August, vier Tage vor Prozessbeginn, wird in Anwesenheit der Regisseurin Spuren – Die Opfer des NSU aufgeführt. „Unter Polizeischutz“, fügt Ostermann hinzu.
Der Prozess ist zunächst auf zehn Verhandlungstage angesetzt. Tilo P. und Sebastian T. wollen sich laut ihren Verteidigern nicht zu den Vorwürfen äußern. Gerne aussagen würden hingegen Koçak und Ostermann. Bislang wurden sie nicht als Zeugen geladen.