Erschienen auf freitag.de, 21.04.23, Foto oben: Eva Kienholz
Ein Mann eilt zu seinem schwarzen SUV, springt auf den Fahrersitz, rast mit quietschenden Reifen davon. Nur einen kurzen Augenblick später passieren etwa dreißig Protestierende der „Letzten Generation“ die nun leere Parklücke auf der Straße des 17. Juni. Begleitet von einem Hupkonzert bewegen sie sich langsam in Richtung Siegessäule. „Übernehmt ihr meine Strafe?“, ruft ein Lastwagenfahrer aus dem offenen Fenster. Er ist der erste, den die Blockade trifft. So wendig wie der schwarze SUV ist er ihr nicht entkommen. „Ich hab Baustellen-Tour zu fahren, mit Streckengenehmigung!“ Immer wieder fährt er ein Stück vor, hupt, die Aktivisten machen einen Schritt zurück. Andere Autos fahren einfach am Stau vorbei, über den Gehweg oder den Mittelstreifen. Verkehrsregeln hin oder her.
Seit über einem Jahr blockiert die „Letzte Generation“ vielbefahrene Straßen in Deutschland, besonders in Berlin. Waren es zu Beginn von 2022 noch 30 Aktivistinnen und Aktivisten, die sich den Straßenblockaden anschlossen, haben sich nun nach eigenen Angaben über 800 angemeldet, um an der bisher größten Protestwelle in Berlin teilzunehmen. Sie lassen sich auch nicht von mehrmonatigen Haftstrafen abschrecken, zu denen zwei Klimaaktivisten zuletzt verurteilt wurden. Die beiden Männer hatten sich im Februar auf einer Straße in Heilbronn festgeklebt. Wegen früherer Delikte wurden die Strafen nicht zur Bewährung ausgesetzt. Viele Menschen fragen sich: Wie weit wird die „Letzte Generation“ noch gehen? Und was bringen die Aktionen überhaupt?
Es ist nicht der einzige Protestmarsch, den die Klimaaktivisten an diesem Donnerstagmorgen in Berlin starten. „Wir bringen die Stadt zum Stillstand, um die Regierung zum Aufbruch zu bewegen“, kündigten sie im Vorfeld an. Dabei wollen sie ihre Blockaden und Aktionen so lange fortführen, bis die Bundesregierung auf ihre Forderung reagiert: Ein Gesellschaftsrat mit gelosten Mitgliedern, der sozial gerechte Pläne für das Ende fossiler Energien bis 2030 ausarbeitet – und eine Regierung, die diese auch ins Parlament einbringt.
Dabei beruft sich die „Letzte Generation“ auf den aktuellen Koalitionsvertrag: Darin verspricht die Ampel, Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einzusetzen und zu organisieren. „Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt“, heißt es weiter unter dem Stichwort „Lebendige Demokratie“.
„Wir haben in den letzten Wochen gesehen, dass die Regierungskoalition – oder die Fortschrittskoalition, wie sie sich ja nennt – keinen Schritt in Richtung Zukunft geht“, sagt Carla Rochel. Sie ist 21 Jahre alt, kommt aus der Nähe von Dresden und hat vor eineinhalb Jahren ihr Studium abgebrochen, um Vollzeit-Klimaaktivistin zu werden. Einen Tag zuvor haben sie und die anderen der „Letzten Generation“ zum Brunchen in die St.-Thomas-Kirche in Kreuzberg geladen. Es gibt Reden und Roggenbrot. Protesttraining und Tofu-Crumble.
„Und dann schafft die Regierung auch noch einfach die Ziele ab, die sie nicht erreicht und entlässt damit Wissing aus seiner Verantwortung“, meint Rochel und spielt dabei auf geplante Änderungen des Klimaschutzgesetzes an, mit denen feste Sektorziele für die Einsparung von CO₂ abgeschafft werden sollen. Das FDP-geführte Verkehrsministerium hatte die Ziele zuletzt deutlich verfehlt.
Kurz vor der angekündigten Protestwelle hat Bundesverkehrsminister Volker Wissing der „Letzten Generation“ mangelnde Gesprächsbereitschaft vorgeworfen. „Diese Gruppierung hat nie mit mir einen Dialog gesucht“, beklagt der FDP-Politiker bei einem Nachrichtenportal. Darauf angesprochen, schüttelt Rochel lachend den Kopf. „Das hab ich auch gerade auf der Busfahrt hierher gelesen. Wir haben Wissing dutzende Male zum Dialog eingeladen.“ Eine andere Aktivistin postet auf Twitter Auszüge aus drei E-Mails, die an Wissing adressiert waren, mit Betreff wie „Gesprächsbereitschaft“ oder „Gesprächsangebot“. Mittlerweile hat der Verkehrsminister eine Kurswende hingelegt: Am 2. Mai will er sich mit den Aktivisten treffen.
Zurück zur Straße des 17. Juni. Hupende Autos, protestierende Menschen, Banner. „Letzte Generation vor den Kipppunkten.“ Oder: „Mehr Demokratie: Gesellschaftsrat jetzt!“ Auch ein paar ältere Protestierende haben sich angeschlossen. Etwas abseits läuft ein Mann mit. Er stellt sich als Gerhard vor, ist 68 Jahre, kommt aus Köln und trägt kein rotes Banner wie die „Letzte Generation“, sondern ein grünes. „Kölle for Future“ steht darauf. Auf die Frage, warum er nicht im Pulk mitläuft, antwortet er: „Ich unterstütze die Forderungen ihrer Proteste. Aber nicht unbedingt ihre Ausführungsform.“
Ein Radfahrer fährt pfeifend an der Blockade vorbei. Und dann, knapp zehn Minuten nach Protestbeginn, ist die Polizei da. „Stehen bleiben!“, ruft ein Polizist. „Runter von der Fahrbahn!“, ruft ein anderer. Da die Protestierenden weder stehen bleiben noch die Fahrbahn verlassen wollen, droht die Polizei mit Gewaltgriffen. Eine Aktivistin sucht noch den Dialog mit einem Polizisten, sie sagt: „Wir können es uns nicht mehr leisten, diesen Protest zu verschieben.“ Und dann werden sie alle von der Fahrbahn auf den Gehweg gezerrt.
Der Protestmarsch könnte an dieser Stelle enden, tut er aber nicht. Plötzlich springt ein Aktivist auf, klettert in Windeseile auf das Dach eines Polizeibusses und ruft: „Die Regierung muss endlich entschlossen gegen den Klimawandel handeln.“ Während zwei Polizisten ihn packen, brüllt er: „Ein Gesellschaftsrat, bei dem alle mit entscheiden können, ist längst überfällig!“ Dann hört man nur noch: „Aaaah“. Und: „Sie tun mir weh!“
Schmerzgriffe von Polizisten, Handgreiflichkeiten und Beleidigungen von Autofahrern bis hin zu Morddrohungen auf privaten Social-Media-Accounts bucht man beim Straßenblockieren fürs Klima quasi mit dazu. Am gleichen Morgen teilt die Berliner Polizei einen Tweet, in dem sie betont: „Das Versammlungsrecht ist elementarer Teil unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.“ Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Rahmen der Klimaproteste würden aber konsequent verfolgt.
Die „Letzte Generation“ will sich nicht mehr auf Worte verlassen. Für sie sprechen beim Klimaschutz nur noch Taten. Dennoch suchen die Aktivistinnen und Aktivisten immer wieder den Dialog mit der Polizei. Auch an diesem Morgen. Er ereignet sich zwischen einem Polizisten, der sein schwarzes Polizei-Käppi anders herum trägt, und einer Aktivistin mit hellblond gefärbtem Haar. Der Polizist ist schon vorab sichtlich genervt.
Aktivistin: „Ich kann verstehen, dass Sie von uns genervt sind.“
Polizist: „Ich habe so viele Stunden angesammelt wegen Ihnen. Und Sie sagen immer: Ja, ich verstehe Sie. Aber nein, Sie verstehen gar nichts.“
„Doch, ich kann Sie verstehen, und nein, wir sind hier auch nicht zum Spaß.“
„Sie sagen immer, wir müssen in den Dialog treten, aber sie reden mit den falschen Leuten, das haben Sie immer noch nicht verstanden. Sie nerven die Bürger dieser Stadt, die zur Arbeit müssen.“
„Wir haben alles andere schon ausprobiert. Petitionen, Demonstrationen. Wir haben uns an die Regierung gewandt, einen Hungerstreik gemacht. Nach 27 Tagen hat Olaf Scholz mal gesagt, okay, wir können reden. Und was ist dabei herumgekommen? Nichts. Wir versuchen ja, mit der Regierung zu reden …“
„Und deswegen rechtfertigen Sie hier weiterhin Ihre Straftaten.“
„Haben Sie schon mal von der Effektivität von friedlichem zivilen Widerstand gehört?“
„Sie verstehen es nicht. Ich möchte mit Ihnen nicht mehr in den Dialog treten. Ich habe schon so oft den Dialog mit Ihnen geführt. Nicht persönlich mit Ihnen, sondern mit anderen von Ihnen. Und Sie stehen immer noch hier. Und ich mache die Kacke jedes Mal wieder.“
„Aber wir richten unseren Protest doch nicht gegen Sie, sondern gegen die Bundesregierung …“
„Aber die Lösung haben sie damit auch nicht bewirkt. Sie nerven nur noch. Verstehen Sie es nicht? Sie ziehen damit nur noch mehr Hass auf sich. Und das ist das, was Sie nicht verstehen wollen. Ich verstehe Ihr Thema. Ich finde ja auch gut, dass man demonstriert. Aber dann melde ich auch sowas an und mach das auf legalem Weg und nicht auf illegalem. Was haben Sie denn mit Ihren Aktionen schon bewirkt? Hat sich was geändert?“
„Wissen Sie, was sich bewirkt hat? Wir diskutieren miteinander.“
„Sie leben in Ihrer eigenen Welt.“
„Wir leben alle in dieser Welt.“
„Sie haben einfach nur Glück, dass unser Justizsystem so schwach urteilt. Sonst würden Sie alle nicht mehr hier stehen.“
„Was ist denn die Alternative? Sagen Sie mir doch eine Lösung!“
„Dass man für Nötigung vielleicht mal zwei Jahre in den Knast geht.“
„Die Regierung bricht gerade ihre Verfassung. Sie bricht unsere Grundrechte. Den Schutz unserer Lebensgrundlagen. Sagen Sie mir bitte eine Alternative?“
„Also ich lebe noch.“
„Aber haben Sie nicht Angst vor der Zukunft in zwanzig Jahren?“
„Erstmal hab ich Angst vor der aktuellen Zukunft. Weil ich lebe auch in der Gegenwart. Und das macht mir gerade mehr Angst. Dass man nur noch so Wege findet. Sie legitimieren Ihre Gewalt …“
„Aber wir sind strikt gewaltfrei. Wir sind immer friedlich.“
„Festkleben ist ja eine andere Form von Gewalt. Aber das verstehen Sie halt auch nicht …“
„Ich verstehe das sehr wohl.“
„Nein, verstehen Sie nicht. Sonst würden Sie ja nicht hier stehen.“
„Wissen Sie, dass wir im letzten Sommer über dreißig Ölpipelines abgedreht haben. Und wen hat’s interessiert? Niemanden. Und dann sind wir da hingegangen, wo es wirklich stört. Und anscheinend interessiert es ja schon viele.“
„Ja, weil Sie Straftaten begehen.“
„Das Thema, das alle verdrängen, wird doch auf den Tisch gebracht. Das ist das Wichtigste.“
„Es ist ja schön, wenn Deutschland immer Klimapolitik durchdrückt, aber es bringt halt auch nichts, wenn die Welt nicht mitspielt. Da können Sie sich alle hundert Mal nochmal hierhin kleben. Das ist ein globales Thema, nicht nur ein nationales Thema.“
„Ich weiß, wir drehen uns da im Kreis. Aber es tut mir auch leid, dass es Sie betrifft. Und ich bin auch super dankbar, dass Sie den Job machen, den Sie machen.“
„Dieses Gefühl hab ich leider überhaupt nicht. Aber ja, ich glaub Ihnen das.“
Später wird der Aktivistin ein Platzverweis erteilt. Morgen reist ihre Mutter aus Nürnberg nach, erzählt die 20-Jährige noch, die an diesem Tag zum dritten Mal die Straße blockiert. „Sie hat ultra Angst um mich wegen der Proteste. Und ich hab Angst um sie wegen der Zukunft. Und um mich wegen der Zukunft.“Auch den anderen Aktivisten wird ein Platzverweis erteilt. Nach und nach verlassen sie die Straße des 17. Juni. In Berlin wollen sie aber erstmal bleiben. Auf unbestimmte Zeit.