Bloß nicht den Controller verlieren!

Wenn man jeden Tag stundenlang zockt, kann das zu einem Problem werden. Oder ein Symptom für eins sein

Erschienen in fluter Nr. 87 „Spiele” und auf fluter.de, Collage oben: Eva Kienholz

Lara weiß noch, wie die Sonne aufging, dann unterging und dann wieder aufging, sie weiß, dass sie in dieser Zeit gestorben ist, Hunderte Tode vermutlich, und sie weiß noch, wie das Spiel hieß, das ihr all dies zufügte: „Black Ops III“. Für Lara war das nichts Schlechtes, im Gegenteil: „Da gab es eine Welt, in der ich nicht über den Alltag nachdenken musste.“

Sie hat sich oft durch die dystopischen Szenarien des Ego-Shooters gekämpft. Lara fasziniert etwas, das das halbe Land anzieht: Videospiele.

Laut einer Erhebung von Newzoo, einem Anbieter von Videogame- und Spielerdaten, zocken mehr als 49 Millionen Deutsche regelmäßig oder gelegentlich, auf Smartphones, Konsolen, Tablets, Computern. Unter ihnen Spitzenpolitiker, die in Krisensitzungen „Candy Crush“ spielen, Fußballprofis, die sich so von „Fortnite“ packen lassen, dass man ihnen im Trainingslager das WLAN kappt. Oder Rentner, die mit Mitte 80 in die Rollenspielwelt von „Skyrim“ abtauchen.

Die meisten spielen aus Spaß, zur Ablenkung von Schule, Ausbildung, Arbeit, manchmal zwei Stunden am Tag, manchmal bis tief in die Nacht, und kehren danach zurück zu Freunden, Familien und Alltag. Sie bestimmen, wann sie aufhören zu spielen. Doch das schafft nicht jeder.

Seit 2018 klassifiziert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gaming Disorder, die Computerspielstörung, als Krankheit. Die Entscheidung war kontrovers: Lange war unklar, ob es so etwas wie Computerspielsucht überhaupt gibt. Denn viele Betroffene leiden zusätzlich an ADHS oder Depressionen. Manche Experten sagen deshalb, exzessives Gaming sei ein Symptom dieser anderen Störungen, keine eigenständige Krankheit. Und die Diagnose Computerspielsucht so schwammig, dass sie normales Verhalten pathologisieren könne.

Die Unschärfe zeigt sich auch in den Daten: Manche Studien stufen ein Prozent der Jugendlichen in Deutschland als computerspielsüchtig ein, andere fast sechs Prozent. Die genaue Zahl kennt niemand. Natürlich ist jemand, der viel zockt, nicht automatisch krank. Die WHO hält eine Suchtdiagnose erst für sinnvoll, wenn die Kontrolle über das Spielverhalten mehr als ein Jahr beeinträchtigt ist. Wer dazu Freunde, Schule oder den Job vernachlässigt – oder auf andere Weise im Leben darunter leidet und trotzdem nicht aufhören kann –, sollte sich Hilfe suchen.

Zum Beispiel bei Claudius Boy. Er ist Sozialarbeiter bei Lost in Space, einer Berliner Beratungsstelle für Internet- und Computerspielabhängige. Wer hierherkommt – laut Boy etwa 450 Medienabhängige im Jahr, Tendenz steigend –, sei im Schnitt 25 bis 30 Jahre alt, zu 80 Prozent männlich und habe selbst gemerkt, dass er ein Spielproblem habe, sagt Boy. „Unsere Klienten realisieren, dass ihr Umfeld im analogen Leben viel mehr auf die Reihe gekriegt hat, während sie vor dem Bildschirm saßen.“

Manchmal kommen Betroffene, die nicht mehr fähig sind zum Abgleich mit der Außenwelt. Boy erzählt von Klienten, die tagelang die Wohnung nicht verlassen, das Essen verweigern. Und von anderen, denen etwas Alltägliches wie ein Toilettengang die Augen öffnet. „Der Blick in den Spiegel und die Frage: Willst du das wirklich für dein Leben? Das kann der Moment sein, anzuerkennen: Nee, ich muss mir Hilfe suchen, sonst gehe ich im Spiel verloren.“

Bei Lara begann das exzessive Zocken mit ihrem 14. Geburtstag, ihr Vater schenkte ihr die Playstation 4. Am Wochenende ging sie auf LAN-Partys. Auf dem Bildschirm „Black Ops III“, fünf gegen fünf, nebenher auf einem Laptop E-Sports-Turniere, in denen andere Teams gegeneinander zockten. Heute ist Lara 23 Jahre alt. Rückblickend beschreibt sie die Zeit wie einen Rausch. „Ich wollte nicht aufhören, vor allem konnte ich nicht aufhören. Man hat ständig gedacht: Du hast heute einen guten Tag erwischt, du musst ihn auch nutzen.“ Kurz vor dem Spielen trank sie einen Koffeindrink, er wird extra für Gamer im Internet angeboten. „Wenn ich das getrunken hatte, war ich für Stunden fokussiert.“

Im Rausch schütte unser Belohnungssystem Dopamin und Endorphine aus, erzählt Claudius Boy von der Beratungsstelle. Das Zocken werde gefährlich, wenn sich dieser Rausch automatisiere, ins Unterbewusstsein wandere und die Spieler die Kontrolle über Spielen oder Nichtspielen abgäben. „Die schalten ein, um sich nur mal eine Stunde zu erholen, sitzen aber dann fünf Stunden und finden eine Ausrede nach der anderen, um weiterzuzocken.“

Zu Lost in Space kommen auch besorgte Eltern. Für sie sei es wichtig, sich erst mal zu orientieren, ob der Spielkonsum ihres Kindes wirklich unnormal sei, erzählt Boy. „Wenn ein Zwölfjähriger eine Playstation bekommt, zockt er nun mal rund um die Uhr. Da ist er noch kein Abhängiger. Der kommt schlicht nicht auf die Idee, seine Spielzeit zu begrenzen: Das Vernunftzentrum im Gehirn bildet sich bis Mitte 20 noch aus.“

Trotzdem sei es wichtig, mit den Jugendlichen ihr Verhalten zu reflektieren. Eine Beratungsstelle kann in diesem Prozess auch die Eltern unterstützen und Tipps für den richtigen Medienumgang geben: Kinder und Jugendliche würden auf das reagieren, was die Eltern vorgeben, sagt Boy.

Bei vielen stumpft irgendwann das Belohnungszentrum ab: Das Hirn gewöhnt sich an die Glücksgefühle, braucht mehr und mehr Input, um den gleichen Effekt zu erleben. Bis er ganz ausbleibt. Dann geht es nur noch darum, mit dem Spielen die eigenen Probleme wegzudrücken. „Viele kommen erst zu uns, wenn selbst das nicht mehr funktioniert“, sagt Boy.

Laras Eltern trennten sich, als sie 15 war. Das sei so eine Zeit gewesen, als sie sich in den Spielen wohler gefühlt habe als im echten Leben. „Aber als sich meine familiäre Situation ein bisschen beruhigt hatte, als ich glücklicher wurde, wollte ich das nicht mehr.“ Sie wohnte bei ihrem Vater, dann bei ihrer Mutter. Bei ihr hat sie ihren Spielkonsum reduziert. „Meine Mutter mag das nicht.“

Verteufeln will er das Zocken nicht. Konsum, auch exzessiver, finde überall in der Gesellschaft statt. „Es geht darum, zu überlegen, wie kriege ich die Kontrolle über meinen Rausch.“

Für Volljährige bietet die Beratungsstelle eine Motivationsgruppe: zwölf Sitzungen, um herauszufinden, ob man süchtig ist und ob die Abhängigkeit individuelle, soziale oder mediale Gründe hat. In der Gruppe kann auch besprochen werden, ob eine Therapie sinnvoll ist. Die Beratungsstelle unterstützt bei der Suche nach passenden Therapieangeboten. Betroffene sollen lernen, ihre Impulskontrolle zurückzuerlangen, ihre Tage mit überschaubarem Videospielkonsum zu strukturieren.

Lara findet, dass Erwachsene mehr Verständnis zeigen sollten, statt Computerspiele nur zu belächeln, zu schimpfen oder ihren Kindern einfach den Stecker zu ziehen. „Wenn ein Kind für ein Computerspiel die erste große Begeisterung entwickelt, möchte es nicht die ganze Zeit signalisiert bekommen, dass das, was es hier macht, falsch ist.“ Sie erzählt von ihrem großen Bruder, der ebenfalls viel gezockt habe. „Er hat das sehr negativ ausgelebt. Er hat herumgeschrien, ist nicht zur Schule gegangen.“ Und ihre Eltern? Hätten wie selbstverständlich das Zocken verantwortlich gemacht, nicht alle anderen Probleme, die sein Verhalten verursacht haben könnten. „Kein Wunder, dass sich so viele Jugendliche hinter ihren PCs verkriechen.“

Auch in der Schule hätte sie sich mehr Akzeptanz gewünscht. „Bei uns gab es sogar Arbeitsgruppen für Golfen oder Astronomie. Warum nicht eine Gaming-AG, in der du dich über neue Spiele austauschen oder ein Turnier mit anderen Schulen organisieren kannst?“ Über ihr problematisches Spielverhalten hat sie sich selbst aufgeklärt. Mit 20 sah Lara bei YouTube Videos des Streamers MontanaBlack. „Der hat erzählt, wie scheiße es ihm eigentlich geht. Er hockt da den ganzen Tag in seinem Keller vor dem PC, kommt nicht raus. Der verdient zwar krass viel Geld damit, aber dafür isoliert er sich sozial komplett.“

Neben solchen Videos hat ihr das soziale Umfeld geholfen: Sie hatte immer auch Freunde, mit denen sie nicht zockt, die vom Basketball und dann noch die, mit denen sie feiern geht. Manchmal war auch das Stress: „Erst ein paar Stunden zocken, dann bis um drei Uhr nachts unterwegs und am nächsten Tag um zehn Uhr bei Oma zum Kaffee auf der Matte stehen.“

Heute spielt sie manchmal wochenlang nicht. Die Computerspiele werden aber bleiben, sagt Lara. Sie mag, dass sie dort alles in der Hand hat. „Wenn du schlecht spielst, verlierst du. Und es wird immer jemanden geben, der besser ist als du.“ Sie habe gelernt, das zu akzeptieren. Und auch sonst von der Zockerzeit profitiert: Das Zehnfingersystem hat sie ohne Mühe gelernt, das helfe jetzt in der Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement. Sie habe ein Verständnis für Technik. Und sei kommunikativ sehr fit. Das würden viele nicht mit dem Zocken assoziieren, meint Lara. „Aber ist doch klar: Du spielst zu fünft in einem Team, hast nur ein Leben, musst zwei Orte gleichzeitig beschützen, und an einem platziert der Gegner eine Bombe. Da musst du taktisch gut sein. Sehr schnell, flüssig und direkt Anweisungen geben – und genau zuhören. In dem Moment ist es lebenswichtig, was deine Mates sagen.“