Die Aktivisten der „Letzten Generation“ kleben sich wieder auf Autobahnen in Berlin fest – ihre Zahl wächst. Autofahrer:innen rasten aus. Wie lange wird das so weitergehen?
Erschienen in Der Freitag, Ausgabe 28/2022, Foto oben: Eva Kienholz
Es regnet in Strömen, als der Mann in neongelber Arbeitsmontur aus seinem Lastwagen steigt. Vor ihm haben sich Menschen auf den Boden gesetzt, mitten im morgendlichen Berufsverkehr auf einer Berliner Bundesstraße. Sie halten Banner hoch: „Öl sparen statt bohren“. Und: „Nordseeöl? Nö!“ Der Mann in Neongelb geht auf die Aktivisten zu. „Wir haben damit doch nichts zu tun“, sagt er und zeigt dabei auf ihre Forderungen. „Alle, die hier stehen, wollen einfach nur arbeiten gehen.“ Seine Stimme klingt verzweifelt, aber ohne aggressiven Unterton. Er korrigiert sich selbst: „Na ja, man muss arbeiten.“
Plötzlich kommt eine korpulente Frau mit pinkem Regenschirm angelaufen. „Ich muss ins Krankenhaus!“, schreit sie und reißt ein Banner weg. „Haut ab! Meine Patienten warten!“ Ihre Stimme überschlägt sich – dann schlägt sie selbst zu, haut eine Aktivistin mit dem Banner. Der Arbeiter in Neongelb versucht, die Frau zu beruhigen: „Werden Sie doch nicht gewalttätig.“ Sie schreit zurück: „Ja, was machen die denn?“ Er müsse ja auch arbeiten, erklärt er ihr. Die beiden streiten dann weiter, bis einer der Aktivisten sich zu Wort meldet, als wolle er ihnen den eigentlichen Grund der ganzen Aufregung wieder in Erinnerung rufen: „Wir haben eine Klimakrise.“
Seit Mitte Juni blockieren Aktivisten vom „Aufstand der letzten Generation“ fast jeden Morgen Autobahnausfahrten und Bundesstraßen in Berlin. Forderten sie im Januar, bei ihren ersten Straßenblockaden, noch ein Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung sowie eine Agrarwende bis 2030, fokussieren sie sich nun auf die geplanten Bohrungen nach Öl in der Nordsee und fordern einen sofortigen Stopp des Neu- und Ausbaus fossiler Infrastruktur. Waren es zu Jahresbeginn nach eigenen Angaben noch 30 Leute, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, seien es heute über 200. Viele von ihnen kleben ihre Hände am Asphalt fest. „Unignorierbar“ wollen sie sein. Mittlerweile blockieren Gleichgesinnte in zahlreichen anderen Ländern wie Frankreich, Italien und Kanada ebenfalls Straßen für mehr Klimaschutz.
Wie schwierig es ist, wartende Autofahrer zu überzeugen, zeigt sich in Berlin nicht nur am Streit zwischen der Krankenschwester und dem Arbeiter in Neongelb. Während die beiden noch diskutieren, laufen zwei Aktivisten mit Plakaten in ihren Händen an den stehenden Autos vorbei. Einer von ihnen ist Lars. Er trägt eine orange Warnweste, die langen Haare streng zu einem Zopf gebunden, dazu eine runde Brille und Bart. Auf der einen Seite seines Plakats ist das Gesicht von Olaf Scholz abgebildet. „Vermisst! Klimakanzler“. Auf der anderen Seite, handschriftlich: „Wir vernichten die letzte Chance auf eine lebenswerte Zukunft für unsere Kinder“. Mit ernstem Blick schreitet Lars an hupenden Autos vorbei. Ein Autofahrer kurbelt das Fenster herunter. „Ihr sollt arbeiten gehen, statt uns hier uffzuhalten. Mann ey!“ Lars antwortet: „Ich kann auch verstehen, dass Sie richtig wütend sind.“
Als Lars an einer zweiten Blockade, etwa 100 Meter hinter der ersten, angekommen ist, bleibt er stehen. Hier haben sich zwei Aktivisten auf die Straße geklebt. Die Polizei ist schon da. Lars sagt: „Das, was wir hier machen, ist eine Konfrontation, mit der Verzweiflung, die wir haben, und mit der grausamen Realität, wie sie nun mal ist.“ Er erzählt, dass ihm bei einer Blockade auch schon mal ins Gesicht geschlagen wurde. „Das ist unschön, aber wir sind nun mal die Verursacher, dementsprechend sind solche Reaktionen erwartbar.“
Nicht nur viele Autofahrer haben kein Verständnis für die Störaktionen. Auch Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kritisierte die Blockaden, sprach von Straftaten. Die Gewerkschaft der Polizei forderte von der Justiz einen konkreten Fahrplan dafür, wie mit den Blockierern umzugehen ist. Bislang wurden zwar schon über 70 Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber noch keine Anklagen erhoben. Der dafür zuständige Staatsanwalt sprach von „schwierigen Rechtsfragen“. Ganz offensichtlich wissen die Institutionen des Rechtsstaats noch nicht, wie mit der „Letzten Generation“ umzugehen ist.
„Das politische System in seiner jetzigen Form wird uns nicht retten. Es ist nicht darauf angelegt, einen schnellen, progressiven Wandel zu schaffen“, sagt Lars, der seinen Job als klinischer Psychologe aufgegeben hat, um Aktivist in Vollzeit zu sein. „Daher braucht es jetzt störenden Protest, der die Gesellschaft und die Regierung damit konfrontiert, dass wir in einen Klimakollaps schlittern.“ Später unterbricht ihn ein Polizist, sagt: „Sie sind jetzt Beschuldigter einer Straftat. Entweder wegen gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr oder Nötigung – das wird noch geklärt werden.“ Auch hier: Ratlosigkeit.
Ein paar Meter weiter versucht ein anderer Polizist mit sehr viel Sonnenblumenöl die Hand einer Aktivistin vom Asphalt zu lösen. Die Hand gehört Carla, 25 Jahre alt und Pressesprecherin der „Letzten Generation“. Sie hat ihr Jurastudium kurz vor dem ersten Staatsexamen abgebrochen, wegen des Aktivismus. Während der Polizist versucht, sie von der Straße zu lösen, versucht Carla, den Polizisten von den Beweggründen ihres aktivistischen Handelns zu überzeugen: „Die Bundesregierung hat sich ja völkerrechtlich dazu verpflichtet, das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten.“ Der Polizist steht dann auf, sagt: „Die Kollegin übernimmt mal.“ Carlas Hand klebt immer noch fest am Boden.
Wer mit Lars, Carla oder anderen Aktivisten der „Letzten Generation“ spricht, hört vor allem feste Entschlossenheit. Sie alle sagen, sie fühlten sich moralisch verpflichtet, so lange friedlichen Widerstand zu leisten, bis die Menschheit nicht mehr in einen Klimakollaps rast. Eigentlich würden sie doch nur geltendes Recht einfordern. Dabei berufen sie sich auf Artikel 20a des Grundgesetzes: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen.“ Die „Letzte Generation“ sagt, dass sie ihre Aktionen einstellen würde, wenn ihre Forderungen erfüllt sind. Aber sie sagt auch, dass sie weitermachen will, solange nicht genug im Kampf gegen die Klimakrise getan wird.
Warum eigentlich dieser Name, „Letzte Generation“? Nicht deshalb, weil sich die Aktivisten als letzte Generation vor der Auslöschung der Menschheit sehen. Sondern weil sie überzeugt sind, dass sie die letzte Generation seien, die „den völligen Klimakollaps noch aufhalten kann“. Sie berufen sich auf Wissenschaftler, insbesondere den britischen Chemiker Sir David King, der bei einem Klima-Notfallgipfel sagte: „Die nächsten drei bis vier Jahre werden die Zukunft der Menschheit bestimmen.“ Die Regierung müsste demnach, so der Konsens der Aktivisten, in einen absoluten Notfall-Modus schalten. Carla beschreibt es so: „Es brennt im Keller, und wir können jetzt nicht im Erdgeschoss noch den Abendbrottisch decken.“ Sie selbst würde für ihre Überzeugungen auch ins Gefängnis gehen. „Wenn die Regierung entscheidet, friedliche Menschen wegzusperren, dann ist das für mich okay. Aber es wäre schon sehr absurd.“
Manchmal, so erzählt es Carla, sind alle ratlos, was jetzt passiert. Oftmals handelt die Polizei auch sehr willkürlich. Manchmal werden diejenigen in Gewahrsam genommen, die festgeklebt sind. Manchmal auch diejenigen, die nicht festgeklebt sind. Mal für wenige Stunden, mal für mehrere Tage. Heute werden alle freigelassen. Auch Carla, die sich festgeklebt hat.
Dennoch sind sich die Aktivisten einig: Die Straßenblockaden sind aktuell das effektivste Protestmittel. Lilly, 24 Jahre, erklärt das so: „Zu uns haben viele gesagt: Geht doch zu den Fabriken, geht zur Regierung. Und dann waren wir an den Gasanlagen und haben über drei Wochen Pipelines abgedreht. Es gab fast keine Reaktionen. Also ist diese Störung des Alltags letztlich das, was Druck erzeugt.“ Ob sie Angst habe, dass ein Autofahrer mal die Fassung verliert und einen Aktivisten überfährt? „Ja, jedes Mal.“
Zwei Tage später ist Lilly kaum wiederzuerkennen, als sie mit fünf Mitstreitenden aus einem roten Kleinbus vor dem Kanzleramt springt. Heute tragen sie und die anderen schwarze Anzüge und Gummi-Glatzen auf dem Kopf. Sie haben große Schaufeln dabei und in Kanistern schwarze Flüssigkeit. Es ist Wasser mit Lebensmittelfarbe und Mehl. „Das ist unsere Zukunft, Leute“, ruft eine Aktivistin, während sie auf dem Boden die dickflüssige Farbe verteilt. „Wo ist unser Nordseeöl?“, fragt eine andere, während sie ein Loch in den schmalen Rasenabschnitt gräbt.
Die Sauerei ist in vollem Gange, als die Polizei eintrifft. Erst beschlagnahmt sie die Schaufeln, dann die Farbe. Wieder: Ratlosigkeit. Vor allem, als sie beginnt, die Aktivisten festzunehmen. Eine ruft: „Bitte lassen Sie mich los. Ich bin Bundeskanzler Olaf Scholz. Sie müssen mir jetzt helfen, nach Öl zu bohren.“ Der Polizist hakt nach: „Sag mir mal deinen Namen, bitte.“ Sie sagt: „Ich bin Olaf Scholz.“ Der Polizist: „Hey, Olaf, ich will jetzt da rübergehen, aber ich will dich nicht über den Boden schleifen.“ Sie sagt: „Ich kann leider nicht mitkommen. Ich bin verzweifelt, ich muss nach Öl bohren.“ Der Polizist: „Ich bin auch verzweifelt.“
Später, in Handschellen auf dem Boden liegend, gibt die Aktivistin noch Interviews als Olaf Scholz. Ein junger Mann stellt Fragen, Handykameras sind auf sie gerichtet. Die Aktivistin erklärt: „Wir brauchen jetzt Öl, damit wir im Winter warm duschen können. Und das verdienen die Deutschen, warm duschen.“ Später sagt sie noch: „Ich glaub, ich hab Nordseeöl in meinem Ohr.“ Ein anderer „Olaf Scholz“ schlägt vor, gemeinsam mit Christian Lindner und der gesamten FDP eine „richtig fette Öl-Party“ zu schmeißen. Er ruft: „Alle Kipppunkte sollen fallen! Zwei, drei, vier Grad – was heißt das schon, wenn man Nordseeöl haben kann? Dieser geile Stoff.“
Zwei Stunden nach der Aktion sind die Aktivisten wieder frei. Der nächste Morgen und die nächste Fernstraße warten schon auf sie.