Erschienen auf freitag.de, 03.11.22, Foto oben: Eva Kienholz
Es scheint, als hätten einige Politiker und Journalisten nur auf diesen einen Fall gewartet: Am Montagmorgen geriet in Berlin eine Radfahrerin unter einen Betonmischer und wurde dabei lebensgefährlich verletzt. Zur gleichen Zeit fanden Straßenblockaden vom „Aufstand der letzten Generation“ statt. Als es dann hieß, dass ein Spezialfahrzeug der Feuerwehr dadurch nicht rechtzeitig am Unfallort eintreffen konnte, brach ein riesiger Shitstorm aus – der durch den jetzt gemeldeten Hirntod der Verunglückten weiter an Fahrt aufnehmen wird. Befeuert wird dieser auch durch Medien, die die Aktivisten als „Klima-Extremisten“ oder von weit rechts gar als „Terroristen“ beschimpfen. Doch noch bedenklicher ist, dass aus falschen Fakten falsche Schlüsse gezogen wurden – und das nicht nur von der Bild-Zeitung.
Ein Beispiel: Am Abend des Unfalls veröffentlichte der Fokus einen Kommentar: „Weil sich Klima-Aktivisten auf eine Straße geklebt hatten, konnte die Berliner Feuerwehr eine schwer verletzte Fahrradfahrerin erst verspätet retten. Unfassbar!“ Daraus schlussfolgerte der Autor: „Hier sind keine Aktivisten am Werk, wie diese Straßenblockierer und Gemäldeschänder verniedlichend genannt werden. Wir haben es mit Kriminellen zu tun. Und sie sind auch als solche zu bezeichnen – und zu bekämpfen.“ Nicht nur der brachiale Ton solcher Kommentare ist daneben – sondern auch die angenommene Faktenlage. Um das herauszufinden, genügt es, Polizei und Feuerwehr zu fragen.
Laut Polizei haben zwei Klimaaktivisten Transparente auf einer Schilderbrücke über der A100 angebracht und sich danach an dem Gestänge festgeklebt. Zeugen hätten die Aktivisten gegen 7.30 Uhr beobachtet. Um die beiden Personen von der Brücke zu lösen, habe die Polizei zwei von drei Fahrstreifen der Autobahn gesperrt. Die Klimaaktivisten haben sich also an der besagten Stelle, die zu dem Stau führte, in den der Rüstwagen der Feuerwehr geriet, nicht an den Boden festgeklebt, sondern an eine Brücke über der Autobahn. Nicht die Aktivisten haben die Straße blockiert, sondern die Polizei hat zwei Fahrspuren gesperrt, um die beiden Männer von der Brücke zu lösen.
Konkreteres zum Unfall weiß die Berliner Feuerwehr zu berichten. Diese sagt, dass sich die Rettung der verunglückten Radfahrerin nicht durch den Stau auf der Stadtautobahn verzögert habe. Rettungswagen seien schon kurz nach dem Unfall eingetroffen. Wie ein Pressesprecher am Telefon mitteilt, hätten die Einsatzkräfte aufgrund der lebensgefährlichen Verletzungen sofort handeln müssen. Das haben sie dann auch getan – sonst wäre die Radfahrerin noch am Unfallort verblutet.
Es ist völlig okay, wenn Kanzler Olaf Scholz, die Berliner Polizeigewerkschaft, Autofahrer oder Journalisten die Straßenblockaden der „Letzten Generation“ nicht gutheißen. Es ist aber schlichtweg falsch, dem Protestmittel wegen eines Unfalls, der nicht dadurch verursacht oder verschlimmert wurde, generell seine Legitimation abzusprechen. „Fällt euch nichts Besseres ein?“, fragte eine Kommentatorin im ARD-Mittagsmagazin einen Tag nach dem Unfall. Und fügte dem hinzu: „Damit wir nicht mehr über euch reden, sondern über eure Argumente.“ Wer wiederum so argumentiert, versteht offenbar das Prinzip von zivilem Widerstand nicht. Dieser stört immer, muss sogar stören, damit sich gegenwärtige Missstände ins gesellschaftliche Bewusstsein brennen und im besten Fall einen Wandel erzeugen.
Man kann die Straßenblockaden kritisieren, aber kaum leugnen, dass sie geeignet sind, Druck auf die Politik auszuüben. Das hat nichts mit Erpressung zu tun, sondern mit einem Recht auf gewissensgeleiteten, gewaltfreien Widerstand. Moralisch fragwürdig ist in diesem Fall nicht der Protest, sondern die Tatsache, dass eine verunglückte Radfahrerin instrumentalisiert wurde, um die Klimaaktivisten vom „Aufstand der letzten Generation“ zu diskreditieren. Ein gefundenes Fressen, bei dem einem schlecht werden sollte.